Gerechtigkeit fuer Igel
meisten würden wohl darauf bestehen, daß ihre Begriffsverwendung klaren Kriterien oder dem gesunden Menschenverstand folgt, wenn überhaupt. Trotzdem können wir ihr Verhalten nur erklären, indem wir von einem interpretativen Begriff ausgehen; nur so können wir verstehen, warum sie eine bestimmte Demokratietheorie verteidigen oder ablehnen und warum ihre Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Staaten Demokratien sind oder nicht, tatsächlich echt sind,
279 was sie ja selbst anzunehmen scheinen. Menschen sind sich der zugrundeliegenden theoretischen Struktur, die zur Rechtfertigung ihrer sonstigen Überlegungen notwendig ist, nicht immer oder vielleicht sogar nur selten bewußt.
Meines Erachtens verstehen die meisten Menschen auch nicht, daß sie unterschiedliche Arten von Begriffen verwenden, wenn sie über Bücher, Löwen oder Gerechtigkeit sprechen. Sie müssen nicht über den Begriff des Begriffs verfügen und tun dies meist auch nicht, was erst recht für den Begriff verschiedener Begriffsarten oder gar den Begriff kriteriumsabhängiger, interpretativer und sich auf natürliche Arten beziehender Begriffe gilt. Das sind philosophische Überlegungen, die in der Praxis keine explizite Rolle spielen, aber dadurch gerechtfertigt werden, daß sie es uns ermöglichen, ebendiese Praxis zu verstehen. Indem wir ein spezifisches Verständnis dieser Begriffe entwickeln, die einen bestimmten Bereich intellektueller Tätigkeit strukturieren, interpretieren wir zugleich diesen Bereich selbst; mit anderen Worten, es handelt sich dabei um eine Möglichkeit, die für diesen Bereich charakteristische Weise des Forschens, Nachdenkens, Argumentierens und Planens zu verstehen. In gewissem Sinn sind also alle Begriffe interpretativ. Weil wir interpretieren müssen, wie man »Glatze« in der Praxis verwendet, um zu erkennen, daß es sich dabei um einen vagen und kriteriumsabhängigen Begriff handelt, können wir die Tatsache, daß beides der Fall ist, interpretativ nennen.
6 Mir geht es aber um Begriffe, die noch in einem weiteren Sinn interpretativ sind, und zwar in dem, daß unsere Verwendung dieser Begriffe am besten als eine Interpretation jener Praktiken verstanden werden kann, in denen sie eine Rolle spielen. Diese Beschreibung läßt genug Raum für jene schwierigen Fälle, in denen wir uns unsicher sind oder es sogar unentscheidbar scheint, ob eine Gruppe von Menschen sich hinsichtlich paradigmatischer Beispiele in einem Maße einig ist, das hinreicht, um von einem geteilten interpretativen Begriff sprechen zu können.
280 Wenn die meisten Menschen aber nicht verstehen, was ein interpretativer Begriff überhaupt ist, warum ist es dann nichtsdestotrotz wichtig, darauf zu bestehen, daß die von ihnen verwendeten Begriffe interpretativ sind? Einen Teil der Antwort habe ich bereits mehrfach erwähnt: Wir wollen verstehen und richtig beschreiben, wie und warum Menschen einander widersprechen und miteinander debattieren, und wir wollen sagen können, ob es sich dabei jeweils um eine echte Uneinigkeit handelt. Hinzu kommt aber, daß wir interpretative Begriffe als solche erkennen müssen, um uns in unseren eigenen Argumentationen von ihnen leiten zu lassen. Im Rest dieses Buches geht es größtenteils um diese Begriffe. Zu verstehen, worum es sich bei ihnen handelt, und was für Argumente wir daher brauchen, wird uns dabei helfen, ein Verständnis reflexiver Verantwortung, des guten Lebens, moralischer Verpflichtung, der Menschenrechte, der Freiheit, der Gleichheit, der Demokratie und des Rechts auszuarbeiten und es zu überprüfen. Außerdem wird deutlich werden, warum das beste Verständnis eines jeden dieser Begriffe jeweils auf dem besten Verständnis aller anderen aufbaut und warum sie sich alle wechselseitig stützen.
Migration der Begriffe
Weil die Zuordnung eines bestimmten Begriffs zu einer der eben erörterten drei Begriffsarten ein interpretatives Urteil ist, muß eine solche Zuordnung nicht für alle Verwendungsweisen des scheinbar selben Begriffs gelten. In den meisten Situationen wäre es bizarr, den Begriff des Buches nicht als kriteriumsabhängigen Begriff zu behandeln. Wir würden wahrscheinlich fast jede noch so ernsthaft geführte Diskussion darüber, ob man ein dünnes Pamphlet als Buch bezeichnen kann, ein wenig albern finden und als rein sprachlichen Disput abtun, ohne hier eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit darüber zu vermuten, wie man Praktiken, in denen der Begriff des
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