Gerechtigkeit fuer Igel
Lebens hat sich diese Umwelt rapide verändert. Lebensstile, die zuvor keinerlei soziale Anerkennung genossen und
360 kaum möglich waren, wurden in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren nicht nur möglich, sondern waren weithin anerkannt; heute sind sie vielleicht gerade noch möglich, haben ihre Anerkennung aber wieder verloren.
Sozialen Einflüssen können wir nicht entfliehen, aber wir müssen uns gegen Formen des Beherrschtwerdens wehren. Diese Unterscheidung ist von großer ethischer Wichtigkeit. Authentizität ist in dieser Hinsicht ein im strikten Sinne relationaler Begriff. Wie authentisch eine Person ist, wird nicht durch Grenzen eingeschränkt, die sich aus der Natur oder ihrer spezifischen Situation ergeben, also etwa daraus, daß sie nicht über athletische Fähigkeiten verfügt, daß es ihr aufgrund des Steuersystems unmöglich ist, so zu leben, wie sie es sich wünschen würde, oder daß sie in einer in technologischer Hinsicht rückständigen Gemeinschaft lebt. In einer solchen Situation steht der betroffenen Person keine große Farbpalette zur Auswahl, aber das Leben, das sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Farben entwirft, kann genauso authentisch und genausosehr das Leben sein, das sie selbst mehr als jeder andere entworfen hat. Andererseits lebt jemand nicht authentisch, ganz egal, wie viele Möglichkeiten ihm offenstehen, wenn andere ihm bestimmte Möglichkeiten verbieten, die ihm andernfalls offengestanden hätten, weil sie diese Möglichkeiten für wertlos halten. Die Unwürdigkeit liegt in einem solchen Fall in der Usurpation, nicht in der Begrenzung. Authentizität verlangt von uns, daß Entscheidungen, insofern sie das betreffen, was eine Person am besten aus ihrem Leben machen soll, von dieser Person selbst getroffen werden müssen.
Authentizität ist also nicht gleichbedeutend mit Autonomie, zumindest nicht, wenn wir hier das Verständnis zugrunde legen, das manche Philosophen von diesem proteischen Begriff haben. Ihnen zufolge verlangt Autonomie nichts anderes, als daß die Gesamtheit der natürlichen und politischen Umstände uns einen bestimmten Entscheidungsspielraum läßt. Wenn eine Regierung die Kultur einer Gemeinschaft so manipuliert, daß
361 bestimmte unerwünschte Lebensweisen verunmöglicht oder schwer wählbar gemacht werden, dann schränkt das die Autonomie der Betroffenen also nicht ein, solange ihnen weiterhin ausreichend Möglichkeiten offenstehen, daß sie eine eigene Entscheidung treffen können. In der durch das zweite Prinzip der Würde bestimmten Bedeutung sind für die Frage der Authentizität die faktische Existenz und die konkrete Art von Hindernissen freier Entscheidung jedoch sehr wohl von Relevanz. Ein gelungenes Leben zu führen bedeutet nicht allein, ein Leben zu entwerfen, so als würde es jeder Entwurf tun, sondern es in Reaktion auf ein ethisches Werturteil zu entwerfen. Authentizität wird dann eingeschränkt, wenn eine Person gezwungen wird, das Urteil einer anderen Person anstelle des eigenen Urteils darüber zu akzeptieren, welche Werte und Ziele im eigenen Leben zum Ausdruck kommen sollten.
Dieses Prinzip der ethischen Unabhängigkeit hat offensichtliche politische Implikationen, die ich im 17. Kapitel identifizieren und erläutern werde. An dieser Stelle möchte ich jedoch die spezifisch ethische Bedeutung dieses Prinzips betonen: die Rolle, die es für den Schutz der menschlichen Würde spielt, die eine Voraussetzung des gelungenen Lebens darstellt. Zwang liegt offen zutage, wenn er durch das Strafrecht oder andere Formen staatlichen Handelns ausgeübt oder angedroht wird. In anderen Situationen ist eine genauere Differenzierung nötig, um Einfluß von Unterordnung zu unterscheiden. Jemand, der seine eigene Würde achtet, muß es ablehnen, seine ethischen Werte aus Furcht vor sozialen und politischen Sanktionen zu verändern. Er kann sich sehr wohl dafür entscheiden, daß er, um ein gelungenes Leben zu führen, im Einklang mit den Erwartungen anderer leben muß, aber er muß diese Entscheidung aus Überzeugung treffen und nicht aufgrund von Trägheit oder jener Furcht.
In manchen orthodoxen Religionen werden Priester oder bestimmte Texte als unfehlbare Übermittler von Gottes Willen betrachtet, und den religiösen Überzeugungen wird eine alles
362 andere überragende Bedeutung dafür, was eine gelungene Lebensführung ausmacht, zugesprochen. Theokratisch organisierte Gemeinschaften, die ihren Mitgliedern ein ethisches System per
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