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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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einen Sinn hat, und auf ein negatives Argument, das zeigt, warum diese Bedingungen nicht erfüllt werden oder nicht erfüllt werden können. Einem auf diese Weise begründeten Nihilismus käme eine eigene Würde zu. Macbeth hat zum internen Skeptizismus – zur Gleichgültigkeit gegenüber seinem restlichen Leben – gefunden, als er realisierte, daß er sich in den Händen übernatürlicher Betrüger befand. Ich nehme an, daß Sie nicht seiner Meinung sind.
    Authentizität
    Wenden wir uns nun dem zweiten Prinzip der Würde zu. Ich bezeichne es als Prinzip der Authentizität, obwohl diese Tugend heute keinen allzu guten Ruf mehr hat. In einem berühmten Aufsatz hat Lionel Trilling der Authentizität die Aufrichtigkeit gegenübergestellt und letzterer den Vorzug gegeben.
18 Dabei hatte er jedoch ein gefühlsduseliges und besonders unauthentisches populäres Verständnis dieses Ideals im Blick. Ohne viel nachzudenken, behaupten viele Menschen, daß sie sich selbst entdecken und in Kontakt mit ihren tiefsten Gefühlen treten müssen. Ein blauäugiger Barde mag davon singen, wie ihm dies gelungen ist. In einer weniger oberflächlichen Ver
356 sion hat dieses Ideal jedoch eine einflußreiche und vollkommen unsentimentale Geschichte und taucht in zahlreichen bedeutsamen Werken der Literatur und der Philosophie auf. In den Schriften vieler wichtiger moderner Philosophen – bei Kierkegaard und Nietzsche zum Beispiel, aber auch bei Sartre und anderen Existentialisten – spielt die Authentizität eine zentrale Rolle. Selbst Shakespeares Schurken und Clowns – Gloucester und Iago, Parolles und Pistol – gelingt es, über die plötzliche und schonungslose Authentizität, mit der sie in langen Monologen anerkennen und gutheißen, wer sie wirklich sind, eine gewisse Würde zu entfalten.
    Authentizität ist die andere Seite der Selbstachtung. Weil Sie sich selbst ernst nehmen, sind Sie der Meinung, daß es zu einem gelungenen Leben gehört, daß Sie selbst in ihm zum Ausdruck kommen und nach einer Lebensweise streben, die Ihnen für Sie selbst angesichts der Umstände, in denen Sie sich wiederfinden, angemessen erscheint. Dabei muß es sich nicht um eine Festlegung auf ein einziges, übergeordnetes Ziel oder auf eine feststehende Wertehierarchie handeln. Statt dessen kann es einfach um das gehen, was wir Charakter nennen, oder was Nietzsche einen »Stil« nannte: eine Lebensweise, die Sie für Ihrer Situation angemessen halten und die Sie nicht einfach unreflektiert einer Konvention oder den Erwartungen und Forderungen anderer entnehmen.
19 Das muß auch nicht unbedingt auf Exzentrizität oder Originalität hinauslaufen. Es kommt nicht darauf an, daß Sie anders leben als die anderen, sondern daß Sie Ihr Leben in Übereinstimmung mit Ihrer spezifischen Situation und den von Ihnen vertretenen Werten führen, statt sich an diesen zu reiben. Das kann darin zum Ausdruck kommen, daß Sie sich einer großen Tradition verpflichtet fühlen. Oder es kann sich in der Liebe zu und in der Sorge um Ihre Kinder und deren Erziehung zeigen; aber auch in einem Leben, das so stark eingeschränkt ist, daß nur sehr begrenzte Wahlmöglichkeiten zur Auswahl stehen, oder das von außen als völlig konventionell und sogar langweilig erscheint. Authentizität setzt
357 auch nicht voraus, daß Sie elaborierte Pläne haben oder sich schon in Ihrer Jugend auf einen genauen Lebensweg festgelegt haben. Um den Charakter oder Stil im Vollzug unseres Lebens auszumachen, versuchen wir zu verstehen, was wir tun, während wir es tun. Wir gehen also nicht bereits schon einem roten Faden nach, sondern versuchen, diesen erst zu entdecken. Sartre nannte dies »existentielle Psychoanalyse«.
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    Es wäre ein Fehler, diese Konzeption der Authentizität für elitär zu halten. Hingegen ist es elitär zu meinen, nur Menschen mit hohem Bildungsgrad, entwickelter Einbildungskraft, ausgeprägtem Empfindungsvermögen oder ausreichend finanziellen Ressourcen wären dazu in der Lage, ein authentisches Leben zu führen. Das eigene Leben zu bejahen erfordert auch nicht, sich kontinuierlich selbst zu überprüfen – das wäre absurd. Von niemandem wird verlangt, explizit anzuerkennen, daß sein Leben adverbialen Wert haben kann und daß ihm die Verantwortung zukommt, diesen Wert zu verwirklichen. Wenn sie müde vor dem Fernseher sitzen, fragen sich nur wenige Menschen, ob sie ihrem Leben einen größeren Wert verleihen könnten, indem sie etwas anderen tun. Trotzdem

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