Gerechtigkeit fuer Igel
die Möglichkeit einer göttlichen Intervention, zumindest nicht auf dieser trivialen Ebene, und dasselbe gilt für die Bewohner Sienas, die vor dem Palio das Pferd aus ihrer contrada , also ihrem Stadtteil mit zur Kirche nehmen. Sie sehen darin eher eine gute Gelegenheit, ihre religiösen Überzeugungen in ihrer Lebensweise zum Ausdruck zu bringen.
Nagel beschreibt auch eine säkulare Version desselben Impulses. Selbst Menschen ohne religiöse Überzeugungen glauben, daß das Universum, wie er es ausdrückt, uns mit einem »Anspruch« konfrontiert. Auch Atheisten müssen sich ihm zufolge folgender dramatischen Frage stellen: »Wie können wir der umfassenden Anerkennung unserer Beziehung zum Universum als Ganzem in unserem individuellen Leben Ausdruck verleihen?« Nagel unterzieht drei mögliche Antworten einer Prüfung. Die erste ist, die Frage abzutun und darauf zu bestehen, daß einem Leben, in dem ein solcher Versuch gar nicht erst unter
367 nommen wird, nichts fehlt. Die zweite Antwort ist humanistisch und besagt, daß das Leben eines jeden Individuums als ein kleiner Teil der Geschichte unserer Spezies oder, grandioser gedacht, der Geschichte des Lebens insgesamt seit seinen primitiven Anfängen verstanden werden muß. Die dritte Antwort holt sogar noch weiter aus: Ihr zufolge muß man das Leben, insbesondere das menschliche Leben, als Teil der viel umfassenderen Geschichte der natürlichen Evolution des Universums verstehen. Die unvergleichliche Euphorie, die jene kühnste Antwort auslösen kann, bringt einige Atheisten sogar in Versuchung, dem Universum irgendeine säkulare teleologische Entwicklung zu unterstellen, in deren Rahmen das Leben und daher auch ihr persönliches Leben mit einem entscheidenden Meilenstein verknüpft ist: der Geburt des Bewußtseins.
Das wirft zwei große Fragen auf. Erstens: Warum hat eine solche spekulative Überhöhung des eigenen Lebens überhaupt einen Wert für manche Menschen? Was haben wir davon, unser Leben als Ausdruck der Herrlichkeit eines transzendenten, aber indifferenten Gottes zu sehen oder als Teil eines kosmischen Dramas, dem kein Bewußtsein innewohnt? Zweitens: Wie kann man sein Leben auf eine Weise gestalten, die eine solche Überhöhung zum Ausdruck bringt? Wie kann sie »in unserem individuellen Leben« verankert werden? Ich habe etwas weiter oben eine Antwort auf die erste Frage vorgeschlagen. Wir möchten auf eine Weise leben, die nicht willkürlich, sondern bedeutsam und unserer Situation angemessen ist. Wenn zu unserer Situation als Hintergrundbedingung auch ein kosmisches Drama gehört, dann wird eine angemessene Antwort dem gerecht werden müssen. Natürlich können wir glauben, daß jenes Drama dem Produktwert unseres Lebens irgend etwas hinzufügt. Man kann zwar das Bewußtsein dem Universum sozusagen positiv zugute und vielleicht sogar für seine bisher größte Errungenschaft halten, aber uns ist das nicht zuzurechnen. Nein, der Wert, den wir in unserer Verbindung zum Universum zu finden meinen, muß adverbial sein, also ein Leistungs
368 wert. Unsere winzige Rolle anzuerkennen ist Teil einer gelungenen Lebensführung.
Damit wird die zweite Frage – Nagels Frage – entscheidend. Inwiefern kann es sich darauf auswirken, wie wir leben, wenn wir dem Kosmos eine säkular verstandene Entwicklung unterstellen? Weniger grandiose Parameter können leicht zu einer konkreten Veränderung führen. Manche Juden, die Atheisten sind, beteiligen sich trotzdem an bestimmten religiösen Feiertagen und halten sich sogar an bestimmte Diätvorschriften oder wöchentliche Rituale. Sie erklären, auf diese Weise auch ohne religiös zu sein an einer kulturellen Tradition teilhaben zu können, die ihnen wichtig ist. Auch wenn wir uns für die zweite der von Nagel vorgeschlagenen Antworten entscheiden, den Humanismus, kann das zu einer Veränderung unserer Lebensweise führen, etwa in Form eines verstärkten Interesses am Umweltschutz im allgemeinen und dem Kampf gegen den Klimawandel im besonderen. Nagels Interpretation zufolge forderte Nietzsche eine noch dramatischere Konsequenz ein, nämlich, alle konventionellen Werte durch andere, wie zum Beispiel Macht, zu ersetzen, die unsere tierische Herkunft besser zum Ausdruck bringen und daher unserer Stellung in der Evolution angemessener sind. Dieser Hunger danach, mit etwas verbunden zu sein, treibt auch Moralphilosophen an, die über die menschliche Natur spekulieren. Obwohl keine empirische Erkenntnis über den
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