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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Hier brauchen wir aber ein kritisches Urteil, weil wir versuchen, einem Maßstab gerecht zu werden, anstatt einfach willkürlich etwas aus einem vorhandenen Angebot auszuwählen. Haben Sie nicht auch andere kritische Einstellungen, die eine Rolle in Ihrem Leben spielen? Empfinden Sie nicht manchmal Stolz, Scham, Bedauern und dergleichen? All diese Einstellungen sind nur verständlich, wenn Sie es für wichtig halten, was Sie aus Ihrem Leben machen, und daß Ihnen die persönliche Verantwortung zukommt, dabei etwas von Wert zu schaffen. Wenn Sie jemand wären, der einfach nur zufällig eine bestimmte Lebensweise bevorzugt, wären Sie völlig unbegreiflich, denn einer solchen Person fehlt einfach die Grundlage, um irgend etwas zu bedauern.
    Wenn diese kritischen Einstellungen eine wichtige Rolle in Ihrem Gefühlsleben spielen, dann spricht das für die anspruchsvollere Interpretation und schließt jene weniger ambitionierte aus. Kritische Einstellungen sind tatsächlich in fast jedem Leben allgegenwärtig, und ich werde im folgenden deswegen einfach davon ausgehen, daß sie auch in Ihrem Leben wichtig sind. Obwohl sie jederzeit aktiviert werden können, habe ich versucht zu zeigen, daß sie auf besonders dramatische Weise ins Spiel kommen, wenn wir unser Leben aus der Perspektive einer Person auf dem Totenbett oder zumindest an einem Punkt, an dem der Tod nicht mehr allzu fernliegt, einnehmen. In solchen Situationen erinnern sich Menschen häufig voller Stolz an die Kinder, die sie großgezogen haben, ihren Militärdienst, ihren guten Ruf. Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß Beethoven
354 kurz vor seinem Tod gesagt haben soll: »Wenigstens wurde ein wenig Musik gemacht.« (Vielleicht hat er es nicht gesagt, aber er hätte es sagen können.) Andere Menschen bedauern all die Möglichkeiten, die sie nicht genutzt haben; Chancen, Freuden und Erfahrungen, die ihnen entgangen sind. Dieses Bedauern kann zuweilen sehr intensiv und selbstquälerisch sein.
    Ich habe bereits zwei Beispiele genannt. Iwan Iljitsch, der dachte, alles zu haben, was er nur will, kam plötzlich der Gedanke, daß er die falschen Dinge gewollt hat, und zu seinem Schrecken mußte er erkennen, daß es nun zu spät war, diesen Fehler zu korrigieren. Für Sydney Carton war es nicht zu spät, weil ihm ein unvorhersehbarer Zufall die Chance gab, etwas sehr viel Besseres zu tun, als es ihm andernfalls möglich gewesen wäre, und auf diese Weise seinem Leben eine erlösende Wendung zu geben. Wenn unser Interesse an unserem eigenen Leben wirklich bloß eine Frage der Präferenz wäre, wie etwa für eine bestimmte Nußsorte, wäre all das nicht nachvollziehbar. Die eben beschriebenen kritischen Einstellungen sind nur sinnvoll, wenn wir anerkennen, daß es objektiv, und nicht nur subjektiv, wichtig ist, was wir aus unserem Leben machen. Das erklärt auch, warum wir uns Sorgen machen, wenn wir befürchten, daß wir unserer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, weil wir sie mißverstanden oder nicht erfüllt haben, und warum wir stolz und erleichtert sind und sagen, unser Leben habe einen Sinn, wenn wir im Sinne unserer Verantwortung gelebt zu haben glauben.
    Natürlich ist es möglich, all diesen Überlegungen mit einer gewissen Skepsis gegenüberzustehen und zu erklären, daß diese von mir objektiv genannte Wichtigkeit ein Mythos ist, und daß der Stolz, das Bedauern, die Scham, die Angst und das Gefühl der Erlösung, die von den meisten Menschen empfunden werden, nur diesem Mythos geschuldet sind. Wenn Sie zu dieser Art von Starrköpfigkeit neigen, will ich Sie auf die Lehren des ersten Teils dieses Buches zurückverweisen. Ihr ethischer Skeptizismus kann kein archimedischer, externer Skeptizismus
355 sein. Es muß sich vielmehr um einen internen Skeptizismus handeln, woraus folgt, daß Sie auf ein ebenso starkes Set an Werturteilen zurückgreifen müssen, um Ihren Nihilismus zu rechtfertigen, wie andere Menschen, die ihre ganz anders gelagerten Intuitionen begründen. Deren Antwort auf die Frage der ethischen Verantwortung können Sie nicht mit metaphysischen Argumenten über die Art von Entitäten, die es im Universum gibt, oder mit soziologischen Argumenten über die Vielfältigkeit von Meinungen über das gelungene Leben unterminieren. Damit würden Sie nur die Fehler des externen Skeptizismus wiederholen. Vielmehr sind Sie auf ein zweiteiliges skeptisches Argument angewiesen: auf positive Thesen über das, was wahr sein müßte, damit unser Leben

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