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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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sie die Idee objektiver Werte ab.
    Auch diese Philosophen konnten jedoch die irreduzible Phänomenologie der Werte im Leben der Menschen nicht leugnen. Also behaupteten sie, daß wir – die menschlichen Wesen, die sich nach Werten sehnen – diese Werte für uns selbst schaffen, durch einen Willensakt und eine Entscheidung. Dieser Ansatz scheitert jedoch daran, daß er die Phänomenologie, die ihn inspiriert hat, nicht einfangen kann. Es stimmt, daß wir unser eigenes Leben gestalten, aber wir tun dies, indem wir uns an Werten orientieren, und nicht, indem wir sie zu erfinden versuchen. Andernfalls wäre es vollkommen sinnlos, sich um Authentizität zu bemühen, und jene Philosophen halten das ja für gut. Vorauszusetzen, daß Werte unabhängig von unserem Willen und unseren Entscheidungen existieren, scheint unverzichtbar, wenn wir genauer nachdenken. Obwohl ich den genannten Philosophen also darin folge, Authentizität für wichtig zu halten, kann ich die spezifische Variante des von ihnen vertretenen externen Skeptizismus nicht akzeptieren. Das muß ich aber auch nicht, denn wenn die vermeintliche Verbindung zwischen der Erklärung und der Rechtfertigung unserer Überzeugungen erst durchbrochen ist, sind wir nicht länger auf ihre gescheiterte Argumentationsstrategie angewiesen.
    365 Das religiöse Temperament
    Für die meisten Menschen gehört zu einer gelungenen Lebensführung, daß sie auf eine bestimmte Weise situiert ist oder, anders ausgedrückt, daß ihre Lebensführung ihren spezifischen Lebensumständen angemessen ist – ihrer Geschichte, ihren persönlichen Bindungen, ihrem Zuhause, ihrer Region, ihren Werten und ihrer Umwelt. E. M. Forsters berühmter Ausspruch – Verbindung ist alles – erweist sich im Bereich der Ethik als besonders aufschlußreich. Wir wollen, daß unser Leben ebenso seinen Sinn hat, wie Ereignisse oder Handlungen, die auf die richtige Weise in eine Rahmenerzählung oder ein Kunstwerk eingebettet werden; wie die Bedeutung einer einzelnen Szene erst durch das Theaterstück als Ganzes zustande kommt und wie eine Kurve oder eine Diagonale nur als Teil des Gemäldes verständlich ist. In Dichtung, Malerei und Musik schätzen wir komplexe Verweisungszusammenhänge nicht einfach nur an sich oder nur aufgrund dessen, was sie uns beibringen, sondern außerdem auch, weil wir für schön halten, was eingebettet und nicht einfach losgelöst ist. Dasselbe gilt auch für das Leben. Vielleicht läßt sich die Intuition, daß Verbindungen wichtig sind, mit der Idee ethischer Parameter einfangen, also bestimmter Merkmale der uns eigenen Situation, die wir in unserer Lebensgestaltung zum Ausdruck bringen und widerspiegeln können, wie etwa unsere politische und nationale Identität, unser ethnischer und kultureller Hintergrund, unsere Sprachgemeinschaft, unsere Heimat und unsere Region, eine Religion, ein bestimmter Bildungsweg oder sonstige vielfältige Zugehörigkeiten. Manchmal versuchen Menschen zum Ausdruck zu bringen, wie wichtig ihnen ihre nationale oder ethnische Identität oder andere Faktoren sind, indem sie sagen, daß sie sich ihnen in gewisser Weise verpflichtet fühlen.
    In dieser Weise situierte Menschen können jenen Faktoren unterschiedliche Priorität zuschreiben und darum unterschiedliche Vorstellungen davon entwickeln, was für eine Lebensfüh
366 rung ihnen gemäß ist. Je großflächiger und dichter jedoch das durch diese Parameter abgesteckte Feld ist, desto enger sind sie miteinander verwoben und desto mehr Sinn kann man einem sie widerspiegelnden Leben zuschreiben. Für viele Menschen stellt ihr Verständnis des Universums den umfassendsten Parameter dar. Oft kommt das in der Überzeugung zum Ausdruck, daß dem Universum eine Kraft innewohnt, die »größer ist als wir«, und im Wunsch, irgendwie im Licht dieser Kraft zu leben. Thomas Nagel bezeichnet die Sehnsucht nach solch einer alles durchdringenden Verbindung als das »religiöse Temperament«.
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    Menschen, die auf eine orthodoxe Weise religiös sind, verorten diese Kraft in ihrem Gott. Manche von ihnen glauben daran, daß es einen Himmel und eine Hölle gibt und daß ihr Gott bereits in diesem Leben belohnen und strafen kann. Andere, die Religion ebenfalls als wichtigen Bestandteil ihres Lebens betrachten, haben jedoch weniger instrumentelle Verbindungen im Sinn. In Oxford glauben die wenigsten Kleriker und Studierenden, die dafür beten, daß ihr College das Bootsrennen der Universität gewinnt, wirklich an

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