Gerechtigkeit fuer Igel
seinem späteren Werk betont, nämlich die zwischen einer im strengen Sinne politischen Theorie, die sich aus der von ihm so genannten »öffentlichen Vernunft« ergibt, und einer umfassenden Theorie der Ethik und Moral. Ich berufe mich insgesamt in diesem Buch und in meiner Auseinandersetzung mit Rawls in diesem Kapitel auf umfassende ethische und philosophische Thesen über die objektive Wichtigkeit des menschlichen Lebens und über Wesen und Grenzen verschiedener Formen ethischer und moralischer Verantwortung. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, halte ich Rawls' Beschränkung auf die »öffentliche Vernunft« nicht für ratsam und glaube, daß sie gerade seine überzeugendsten Argumente aus dem offiziellen politischen Diskurs verbannen würde.
27 Wenn das stimmt, wäre es ein weiterer Grund dafür, sein Hauptargument auf diese umfassendere Weise zu verstehen.
Scanlon
In seinem Buch What We Owe to Each Other plädiert Thomas Scanlon dafür, daß wir andere Menschen so behandeln sollten, wie es Prinzipien von uns verlangen, die niemand vernünftigerweise zurückweisen könnte.
28 Er erlegt den Menschen, die beurteilen müssen, um welche Prinzipien es sich dabei handelt, keinen Schleier des Nichtwissens auf: Es liegt in ihrem eigenen Ermessen, ob Merkmale ihrer Situation oder bestimmte Präferenzen und Überzeugungen für dieses Urteil relevant sind.
458 Scanlon geht auch nicht davon aus, daß alle Menschen zu demselben Urteil kommen würden, sondern nimmt an, daß es Urteile gibt, die sich sozusagen im Rahmen dessen bewegen, was vertretbar ist, was aber nicht bedeutet, daß alle Menschen innerhalb dieses Rahmens auf dieselbe Weise zu den gleichen Ergebnissen kommen würden. Trotzdem wird genug als im voraus festgelegt angenommen, um sich mit der Wechselwirkung von ethischen und moralischen Ideen befassen zu können. Scanlon zufolge gehört es zu einer gelungenen Lebensführung, eine bestimmte Einstellung zu anderen Menschen zu haben oder sich um eine solche zu bemühen, und diese Einstellung kommt unter anderem in dem Wunsch zum Ausdruck, sein eigenes Verhalten auf jene von ihm beschriebene Weise gegenüber anderen rechtfertigen zu können. Er nimmt an, daß eine gelungene Lebensführung bestimmte Einstellungen voraussetzt, was an sich noch keine moralische Behauptung ist – und daß diese Einstellungen im Grunde festlegen, welche moralischen Prinzipien wir akzeptieren sollten.
Die Idee der Vernünftigkeit spielt in Scanlons Gesamtargumentation eine zentrale Rolle, was zu dem Einwand geführt hat, seine Theorie sei zirkulär, weil Vernünftigkeit selbst ein moralisches Ideal ist und er ja beansprucht, ebendiese zu erklären.
29 Dieser Einwand ist aber vollkommen fehlgeleitet, weil er die interpretative Komplexität von Scanlons Argumentation ignoriert. Es stimmt natürlich, daß wir uns oft im Rahmen einer moralischen Aussage auf den Begriff der Vernünftigkeit beziehen, zum Beispiel indem wir sagen: »Unter diesen Bedingungen war es vernünftig zu lügen«. Zugleich handelt es sich aber auch um einen ethischen Maßstab. Wir denken zum Beispiel, daß es nicht nur falsch, sondern außerdem ziemlich albern wäre, einen signifikanten Teil seines Lebens dem Sammeln von Streichholzschachteln zu widmen. Eine solche Entscheidung ist ethisch betrachtet nicht vernünftig. Dieser Begriff hat also genau die Brückenfunktion zwischen Würde und Moral, um die es uns hier geht. Es wäre unvernünftig von Ihnen, in einer
459 Situation eigennützig zu handeln, in der Ihnen nur ein geringer Vorteil entsteht, anderen aber ein außerordentlich hoher Schaden, und zwar deshalb, weil es nicht damit vereinbar ist, die objektive und auch die subjektive Wichtigkeit Ihres eigenen Lebens anzuerkennen. Den eigenen Interessen mehr Gewicht zu geben ist hingegen dann nicht unvernünftig, wenn das nur bedeutet, die Auswirkung einer Entscheidung auf Ihr eigenes Leben stärker zu gewichten als die Konsequenzen für das Leben irgendeiner anderen Person. Ein solches Verhalten würde nämlich nicht dagegen sprechen, daß Sie das Leben jener Person für genauso objektiv wichtig halten wie das Ihre.
460 Kapitel 12
Hilfe in Not
Ein Kalkül der Aufmerksamkeit
Würde und moralisch falsches Handeln
Was schulden wir Fremden – also Menschen, mit denen wir in keiner besonderen Verbindung stehen und die vielleicht am anderen Ende der Welt leben? Auch wenn wir keine besondere Beziehung zu ihnen haben, sind ihre Leben gleichermaßen objektiv
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