Gerechtigkeit fuer Igel
Autorität zu usurpieren.
Diese beiden Forderungen der Würde stellen uns vor die bereits beschriebene interpretative Herausforderung. Weder für Kant noch für uns stellt es eine Option dar, diesen deutlichen Konflikt durch eine Balance oder einen Kompromiß zwischen beiden Forderungen aufzulösen. Für Kant ebenso wie für uns würde jeder Kompromiß auf einen Verrat an unserer Würde hinauslaufen. Seine Antwort bestand daher darin, eine geeignetere Interpretation beider Forderungen vorzuschlagen. Unter Autonomie verstand er nicht die Freiheit, zu tun, was auch immer unseren Neigungen entspricht, sondern eine Freiheit,
451 die auch die Freiheit von diesen Neigungen einschließt. Wir sind autonom, wenn wir aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handeln und nicht mit Blick auf ein partikulares Ziel, wie etwa den Genuß, unsere Auffassung vom guten Leben, einen transzendenteren Wert oder auch die Milderung des Leidens anderer.
Diese Interpretation erklärt, warum der Autonomie jene übergeordnete Bedeutung zukommt, die Kant ihr zuschreibt. Wenn wir unser Leben dem Erreichen eines dieser partikularen Ziele widmen würden, würden wir es nicht als intrinsisch und objektiv wertvoll achten, sondern nur als Mittel zum Erreichen jenes Ziels schätzen. Statt dessen müssen wir unsere Freiheit als Zweck an sich und nicht als Mittel zu etwas anderem behandeln, und das tun wir, indem wir davon ausgehen, daß wir frei sind, wenn wir aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handeln, statt es zu ignorieren. Dazu genügt es aber nicht, einfach den Forderungen des moralischen Gesetzes nachzukommen: »Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.«
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Dieses Autonomieverständnis entspricht unserer eigenen Konzeption der moralischen Verantwortung aus dem sechsten Kapitel. Wenn wir die dort beschriebene Aufgabe angehen, ist unser Ziel, unsere moralischen Überzeugungen zu operativen Motiven zu machen, indem wir ihnen entgegengesetzte Einflüsse unserer persönlichen Lebensgeschichte herausfiltern. Kants Versöhnung der Autonomie mit der Achtung für andere verlangt aber eine substantiellere Festlegung hinsichtlich dessen, was die so verstandene Autonomie von uns verlangt. Was bedeutet es, andere und auch mich selbst als Zwecke an sich zu behandeln? Kants Antwort ist nicht, daß ich stets unparteilich handeln muß. Er schlägt eine andere und sehr viel weniger anspruchsvolle Form des Universalismus vor: Wir müssen so handeln, daß wir vom Prinzip unserer Handlung wollen können, daß es universell anerkannt und befolgt wird. Wie Kant
452 ausführt, achtet ein vernünftiges Wesen seinen eigenen intrinsischen ethischen Wert durch solche Prinzipien, »weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet«.
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In der Kantforschung ist umstritten, was diese eher rätselhafte Formel – daß man ein Gesetz als allgemein gültig will – eigentlich bedeutet, ebenso wie auch über viele andere Elemente seiner Theorie immer noch gerätselt und diskutiert wird.
21 Die generelle Stoßrichtung ist jedoch klar genug: Andere Menschen mit der Achtung zu behandeln, die wir selbst beanspruchen, verlangt zumindest, daß wir kein Recht für uns selbst fordern, das wir nicht auch anderen zugestehen, und ihnen keine Pflicht auferlegen, die wir nicht auch für uns selbst akzeptieren. In der Terminologie des US -amerikanischen Verfassungsrechts könnte man sagen, daß die Achtung aller eine Art gleichen moralischen Rechtsschutz verlangt. Diese Einschränkung verlangt weder per se noch qua wahrscheinlicher Implikation von uns, immer so zu handeln, als sei unser eigenes Leben uns nicht wichtiger als das Leben einer beliebigen anderen Person. Kant zufolge handelt es sich dabei um eine Auslegung dessen, wie Moral tagtäglich praktiziert wird, und er führt zur Illustration Beispiele von Gesetzen an, die wir nicht ohne Selbstwiderspruch als allgemein gültig wollen können, die aber so formuliert sind, daß sie zu moralischen Forderungen führen, die uns sehr vertraut sind.
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Diese Rekonstruktion von Kants Argumentation ist natürlich stark von dem beeinflußt, was ich in diesem Buch zu zeigen versuche – und vielleicht ist dieser Einfluß zu verzerrend. Ich hoffe aber, daß das nicht der Fall ist. Mir geht es darum zu zeigen, daß Kants Behauptungen am überzeugendsten sind, wenn
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