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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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zusätzliche Fähigkeit verfügen, rational darüber nachzudenken, was diese Ziele sein sollten. Sie wissen, daß jede andere Person diese Vermögen ebenfalls zu einem »Mindestmaß« besitzt. Nichts davon erklärt jedoch, warum sie diese beiden Vermögen nicht ausüben sollten, bevor sie ihre Repräsentanten im Urzustand instruieren. Jeder Repräsentant könnte dann versuchen, durch Verhandlung eine im Sinne seines Auftraggebers gerechtere Gesellschaft zu erreichen, die dessen eigene Ansichten über die für ihn und vielleicht auch alle anderen richtigen letzten Ziele angemessen zum Ausdruck bringt. Was wir bisher über die Konzeption der Person erfahren haben, trägt nichts dazu bei, zu erklären, warum der Urzustand die Gestalt hat, die Rawls ihm gegeben hat.
    Wir können Rawls' Theorie aber auch anders interpretieren, indem wir viel mehr Gewicht auf die Aussage legen, daß diese Personen »autonom« sind. Man könnte das so verstehen, daß sie ihr Leben als objektiv wichtig behandeln, daher auch davon ausgehen, daß die Leben aller anderen Personen dieselbe objektive Wichtigkeit haben, und aus diesem Grund glauben, es sei ein Affront gegen ihre eigene Würde, politische Institutionen anzustreben, die nicht berücksichtigen, daß jedes Leben auf diese Weise wichtig ist. Nehmen wir außerdem an, daß autonome Personen nicht nur für sich selbst nach einem aus ihrer Sicht guten Leben streben wollen, sondern ihnen eine gelungene Lebensführung sogar noch wichtiger ist, und daß sie zudem der Ansicht sind, daß eine gelungene Lebensführung beinhaltet, solche Verletzungen der eigenen Würde zu vermeiden. Wenn wir Rawls' Konzeption der Person auf diese Weise weiter ausbauen, kann sie entscheidend zur Rechtfertigung des Urzustands und des Schleiers des Nichtwissens beitragen. Wir können nun erklären, daß der Urzustand vor dem Hintergrund der eben skizzierten ethischen Annahmen als dem Inter
456 esse der Teilnehmer an einer gelungenen Lebensführung dienend betrachtet werden kann, weil er es ihnen erlaubt, sich auf die entscheidende Frage zu konzentrieren, welche Institutionen ihre Würde achten würden – indem sie etwa eine bestimmte Verteilung der gemeinschaftlichen Ressourcen festlegen, die der gleichen Wichtigkeit der Leben aller gerecht wird.
    Diese Interpretation ist eine nuanciertere Version von Rawls' Vorbemerkung, daß sich die Parteien im Urzustand auf keine vorgängige Theorie der Gerechtigkeit verlassen.
26 Meiner Lesart zufolge würden die Parteien die politischen Konsequenzen der eben skizzierten Theorie der Autonomie akzeptieren und auch in den Urzustand einbringen. Sie würden davon ausgehen, daß die Grundstruktur der von ihnen gewählten Regierung allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft gegenüber die gleiche Berücksichtigung und Achtung zum Ausdruck bringen müsse und würden in diesem sehr abstrakten Sinn eine egalitäre Gerechtigkeitskonzeption vertreten. Aber sie würden keine konkretere Interpretation dieses egalitären Standards zugrunde legen; eine solche müssen ihre Repräsentanten hinter dem Schleier des Nichtwissens ausarbeiten. Wie wir im fünften Teil sehen werden, kann man dieses abstrakte Prinzip auf vielerlei Weisen auslegen: Das Spektrum reicht hier von utilitaristischen bis zu libertären Interpretationen. Ich verstehe also Rawls' Vorbemerkung als Ablehnung der Idee, daß die Parteien im Urzustand eine bestimmte Interpretation der Gerechtigkeit voraussetzen, wie etwa die, die ich im sechzehnten Kapitel als Ressourcengleichheit bezeichne.
    Das hier vorgeschlagene Verständnis des Urzustands beruht auf den bereits eingeführten Unterscheidungen, und natürlich ist auch meine Interpretation von Rawls' Theorie stark von meiner eigenen Sichtweise beeinflußt. Auch hier hoffe ich, seinen Ansatz nicht bis zur Unkenntlichkeit verzerrt zu haben. Allerdings könnte es sein, daß mein Verständnis von Rawls' »Konzeption der Person« zu etwas anderen Schlußfolgerungen als
457 den seinen führen würde. Vielleicht würde sie nicht länger das »Differenzprinzip« rechtfertigen, dem zufolge ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie zum Vorteil der schlechtestgestellten Gruppe innerhalb der Gemeinschaft sind. Die hier vorgeschlagenen Prinzipien der Würde fordern eine völlig andere Konzeption ökonomischer Gleichheit, die ich im sechzehnten Kapitel erläutern werde. Außerdem habe ich bei meiner Interpretation eine Unterscheidung außen vor gelassen, die Rawls in

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