Gerechtigkeit fuer Igel
Abstriche zu machen. Das bedeutet, daß wir die erste Forderung so interpretieren müssen, daß sie Raum für die zweite läßt, und umgekehrt. Wie ich bemerkt habe, würde Ihnen das aber als unmöglich erscheinen, wenn Sie von jener bereits erwähnten extrem anspruchsvollen Interpretation des ersten Prinzips – der zufolge Sie dem Wohlergehen beliebiger Fremder stets dieselbe Aufmerksamkeit widmen müssen wie Ihrem eigenen Wohlergehen – überzeugt wären. Dann würden Sie vermutlich keine plausible Interpretation des zweiten Prinzips finden können, die nicht zum ersten in Widerspruch steht.
Glücklicherweise ist das keine besonders überzeugende Aus
463 legung des ersten Prinzips. Zunächst ist festzuhalten, daß diese Interpretation bedeutungslos bleibt, weil wir über keine Metrik des Wohlergehens verfügen, die es uns erlauben würde, die notwendigen Vergleiche sinnvoll durchzuführen. Das Wohlergehen einer Person ist kein meßbares Gut, sondern hängt mit der Frage des guten Lebens zusammen, und wir können nicht adäquat messen oder vergleichen, wie gut oder erfolgreich unterschiedliche Leben sind. Theoretiker, die man als »Wohlergehenskonsequentialisten« bezeichnen könnte, haben versucht, Wohlergehen als eine Art von Gut aufzufassen. Manche von ihnen behaupten, das Wohlergehen einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt sei das über alles erlittene Leid hinausgehende Mehr an Lust, und wir könnten daher das Gesamtwohlergehen einer Person berechnen, indem wir von der Summe ihrer Lustempfindungen die ihres Leidens abziehen. Anderen zufolge hängt das Wohlergehen einer Person davon ab, wie viele ihrer Ambitionen sie zu verwirklichen vermag, so daß wir das Gesamtwohlergehen messen können, indem wir die Schwankungen der Wunschbefriedigung mit jenen der Wunschfrustration verrechnen. Wieder andere meinen, Wohlergehen lasse sich darüber bestimmen, ob Menschen in der Lage sind, ihre faktischen und möglichen Ziele und Bestrebungen zu erreichen. Aus Gründen, die ich andernorts ausgeführt habe, stellt keine dieser bekannten philosophischen Auffassungen des Wohlergehens eine plausible Grundlage für die persönliche und politische Moral dar.
1
Bei den Begriffen der Wohlfahrt, des Wohlergehens und des guten Lebens handelt es sich um interpretative Begriffe. Menschen sind sich darüber uneins, welche Konzeption des guten Lebens die richtige ist – wie wichtig es zum Beispiel ist, Spaß zu haben, die eigenen Wünsche zu befriedigen oder die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Politische Maßnahmen, die eines dieser konkreten Güter »gleich verteilen« würden, wären für viele Menschen faktisch von Nachteil, und das macht jede oberflächliche Attraktivität einer solchen abstrakten Version
464 des Wohlfahrtskonsequentialismus umgehend zunichte. Natürlich können wir alle individuell versuchen, allen Menschen eine gemäß ihren eigenen Vorstellungen gelungene Lebensführung so leicht wie möglich zu machen, indem wir uns etwa für eine stärkere Gleichverteilung von Wohlstand und anderen Ressourcen einsetzen. Bis zu einem gewissen Grad – und insbesondere unter den im fünften Teil diskutierten Umständen – haben wir tatsächlich eine entsprechende Verantwortung. Das ist aber nicht damit gleichzusetzen, sich darum zu bemühen, daß andere Menschen tatsächlich bessere Leben gelebt haben. Ein Wohlergehensegalitarismus ist nicht nur übermäßig anspruchsvoll, sondern auch philosophisch gesehen ein Fehler.
Im Kant'schen Prinzip wird das Thema einfach gewechselt: Hier geht es nicht um das Wohlergehen als anzustrebendes Ziel, sondern um eine Einstellung, die als Richtlinie dienen soll. Wir müssen andere Menschen so behandeln, daß wir dabei deren Leben dieselbe objektive Wichtigkeit zuschreiben wie unserem eigenen.
2 Anderen nicht zu helfen kann durchaus mit dieser Einstellung vereinbar sein, und dasselbe gilt auch für andere Arten von Werten. So kann ich den außerordentlichen objektiven Wert einer bedeutenden Gemäldesammlung durchaus anerkennen und mich trotzdem keineswegs persönlich für die Bewahrung dieser Sammlung verantwortlich fühlen. Ich habe vielleicht einfach andere Prioritäten. Ebenso kann ich zugestehen, daß die Leben von mir fremden Menschen objektiv wichtig sind, ohne anzunehmen, daß ich mein Leben und meine Interessen ihren kollektiven oder aggregierten Interessen unterordnen muß oder auch denen einer einzelnen Person, deren Bedürftigkeit größer ist als meine eigene.
Weitere Kostenlose Bücher