Gerechtigkeit fuer Igel
wir sie im Rahmen eines interpretativen Ansatzes verstehen, der Ethik und Moral zu einem System verbindet, in dem jede moralische und jede ethische Idee die anderen stützt. Unabhängig davon, ob wir nun mit dem moralischen Gesetz oder mit der Ethik der Selbstachtung beginnen, entsteht am Ende
453 immer dasselbe System. Kant ist sicher nicht davon ausgegangen, daß das Handeln aus Achtung vor dem moralischen Gesetz notwendig oder auch nur im Normalfall zu einem guten Leben führt, aber er hielt es für eine notwendige Bedingung einer gelungenen Lebensführung, die mit Selbstachtung und Autonomie im Einklang steht. So verstanden stellt das Kant'sche System ein beeindruckendes Beispiel eines aktiven Holismus dar.
Ich gebe zu, daß ich vieles von dem, was in der Kantforschung für charakteristisch und zentral gehalten wird, ignoriert habe, etwa Kants Metaphysik und seine Theorie der Vernunft, wie er sie in seinen Kritiken entwickelt. Er ging selbst davon aus, in den ersten beiden Abschnitten der Grundlegung gezeigt zu haben, daß Autonomie nur dann möglich ist, wenn wir dazu in der Lage sind, aus Achtung vor dem von ihm formal beschriebenen moralischen Gesetz zu handeln. Im dritten Abschnitt wird diese Möglichkeit dann gegen die Bedrohung durch den Determinismus verteidigt. In der von uns bewohnten Sinnenwelt – der Welt der Wissenschaft – scheint Autonomie unmöglich, da unsere Handlungen in dieser Welt durch vorgängige Ereignisse determiniert werden, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Wir bewohnen jedoch noch eine andere Welt – die Welt, wie sie an sich ist, nicht wie sie uns erscheint. Uns ist aus strukturellen Gründen verwehrt zu erkennen, wie diese noumenale Welt verfaßt ist, aber wir können und müssen davon ausgehen, in jener Welt über eine Art von Freiheit zu verfügen, die Autonomie und Moral möglich macht. Kant war also der Ansicht, daß Verantwortlichkeit und Determinismus unvereinbar sind. Ich habe im letzten Kapitel versucht zu zeigen, daß diese Sichtweise falsch ist. Wenn er in dieser Frage Kompatibilist gewesen wäre, hätte er die reflexive Verantwortung als Phänomen betrachtet, das sich vollständig im Rahmen der von ihm so genannten Sinnenwelt erklären läßt.
454 Rawls
Im dritten Kapitel habe ich im Rahmen einer Erörterung konstruktivistischer Ansätze in der Moraltheorie behauptet, daß Rawls' Theorie am besten nur als in einem beschränkten internen Sinn skeptisch hinsichtlich objektiver moralischer Wahrheit verstanden werden sollte. Er wollte sich auf Prinzipien beziehen, die den politischen Traditionen der von ihm adressierten Gemeinschaft inhärent sind, benötigte aber substantielle moralische Annahmen, um zu entscheiden, welche Traditionen das sein sollten. Wenden wir uns nun auf dieser Grundlage ein weiteres Mal seiner Theorie zu. Ich habe bereits seine wichtige Behauptung zitiert, daß »oberste Gerechtigkeitsgrundsätze […] aus einer Konzeption der Person vermittels einer geeigneten Repräsentation, wie sie in Gerechtigkeit als Fairneß durch das Konstruktionsverfahren veranschaulicht wird, hervorgehen [müssen]«.
23 Diese Repräsentation muß davon ausgehen, daß Menschen »in zweierlei Hinsicht als autonom bezeichnet [werden]: Erstens wird von ihnen nicht verlangt, daß sie in ihren Überlegungen irgendwelche vorgängigen und vorgegebenen Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien anwenden oder sich von ihnen leiten lassen. […] Zweitens wird von ihnen gesagt, daß sie allein durch ihre höchstrangigen Interessen an ihren moralischen Vermögen und ihr Bestreben bewegt werden, ihre feststehenden, aber unbekannten letzten Ziele zu fördern.«
24 Diese beiden »moralischen Vermögen« hat er erstens als »Anlage zu einem wirksamen Gerechtigkeitssinn« und zweitens als »Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen« verstanden.
25 Diese Annahmen über die Einstellungen und Interessen von Menschen rechtfertigen Rawls zufolge die Strukturmerkmale seiner Argumentationsstrategie des Urzustands. Das kann aber nur gelingen, wenn wir seine »Konzeption der Person« auf sehr spezifische Weise verstehen. Wenn wir Rawls' Theorie auf die vielleicht zunächst naheliegende Weise lesen, trägt diese Kon
455 zeption nichts dazu bei, den Schleier des Nichtwissens zu rechtfertigen. Seine Personen sollen das Vermögen eines Gerechtigkeitssinns besitzen. Sie sollen zudem ihre »letzten Ziele« zu fördern bestrebt sein und über die
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