Gerechtigkeit fuer Igel
Ich kann völlig aufrichtig der Überzeugung sein, daß das Leben Ihrer Kinder objektiv nicht weniger wichtig ist als das Leben meiner eigenen, und doch mein Leben ganz meinen eigenen Kindern widmen und die Ihren ignorieren. Schließlich sind es ja meine Kinder.
Wenn ich mich weigere, mich auf bewundernswerte Weise
465 aufzuopfern, heißt das noch lange nicht, daß ich die gleiche Wichtigkeit aller Menschenleben leugne. Es könnte zum Beispiel sein, daß ich die Möglichkeit habe, viele Menschen aus großer Gefahr zu retten, indem ich mich selbst einer solchen aussetze. Die Soldaten, die sich zu Forschungszwecken freiwillig von Gelbfiebermücken stechen ließen, werden zu Recht als Helden gefeiert. Wenn ich mich aber weigere, mich dafür freiwillig zu melden, bedeutet das nicht, daß ich das Leben anderer für intrinsisch weniger wichtig halte als mein eigenes. Nehmen wir an, ich hätte in einer Lotterie eine Ägäis-Kreuzfahrt gewonnen. Ich freue mich sehr darauf, erfahre dann aber von einem gemeinsamen Freund, daß ein mir unbekannter Altphilologe sich schon lange nach einer solchen Kreuzfahrt sehnt, ohne sie sich aber leisten zu können. Letzterem meine Fahrkarte für die Kreuzfahrt zu überlassen, wäre sehr großzügig von mir. Wenn ich das aber nicht tue, bedeutet das nicht, daß ich sein Leben für objektiv weniger wichtig halte als das meine.
Es gibt jedoch Grenzen: Ich kann etwas, dem ich objektiven Wert zuspreche, nicht ohne Selbstwiderspruch vollkommen ignorieren. Ich kann ihm nicht gleichgültig gegenüberstehen. Wenn ich eine Ausstellung besuche, ein Feuer ausbricht und ich ohne großen Aufwand ein bedeutendes Gemälde mit ins Freie retten kann, kann ich es nicht dem Feuer überlassen und zugleich erwarten, daß andere meine öffentlich geäußerte Anerkennung seines unvergleichlichen Werts weiter ernst nehmen. Unter bestimmten Bedingungen – Philosophen sprechen hier von »Hilfe in Not« – würde meine Weigerung, einem Fremden zu helfen, Ausdruck einer ebensolchen Gleichgültigkeit gegenüber der Wichtigkeit allen Menschenlebens sein. Nehmen wir an, Sie befinden sich am Strand und nicht weit draußen im Meer ruft eine ältere Dame, Hekuba, um Hilfe, weil sie zu ertrinken droht. Weder bedeuten Sie ihr persönlich etwas, noch umgekehrt sie Ihnen. Sie können sie aber ohne großen Aufwand retten, und wenn Sie das nicht tun, können Sie nicht behaupten, das menschliche Leben wirklich als objektiv
466 wichtig zu achten. Aber wo ziehen wir hier die Grenze? Das ist eine interpretative Frage. Welche Handlungen sind unter welchen Bedingungen Ausdruck dafür, daß Sie der objektiven und gleichen Wichtigkeit menschlichen Lebens nicht gerecht werden? Die Antwort hängt nicht davon ab, was Ihre (authentischen) Überzeugungen sind. Wenn Sie sich von der ertrinkenden Person abwenden, haben Sie keine Achtung vor dem menschlichen Leben, selbst wenn Sie das selbst anders sehen würden. Wir brauchen einen objektiven Test, wenn auch keinen rein mechanischen, da hier interpretative Fragen aufgeworfen werden, die von verschiedenen Interpreten unterschiedlich beantwortet werden. Unser Test muß darauf abzielen, diese Interpretation zu strukturieren, indem er vorgibt, welche Faktoren wir auf welche Weise zu berücksichtigen haben, er darf aber nicht so detailliert sein, daß er bei schwierigen Grenzfällen das Urteil vorwegnimmt. Jeder plausible Test muß drei Faktoren Rechnung tragen: dem Schaden, der dem Opfer droht, den Kosten, die der potentielle Retter tragen müßte, und der Frage, in welchem Maße der potentielle Retter mit dem Opfer direkt konfrontiert ist. Diese Faktoren beeinflussen sich wechselseitig – fällt einer von ihnen stark oder nur gering ins Gewicht, wird die Bedeutung der anderen dadurch verringert oder erhöht. Es bietet sich jedoch an, sie getrennt voneinander zu diskutieren.
Eine Schadensmetrik
Es ist von offensichtlicher Relevanz, von welcher Art und von welchem Ausmaß der Schaden ist, dem sich jener Fremde ausgesetzt sieht, und auch was oder wieviel er braucht. Wie sollen wir dies messen? Einen rein vergleichenden Maßstab haben wir bereits zurückgewiesen: Sie haben nicht die Pflicht, jemandem zu helfen, nur weil seine Situation in bestimmter Hinsicht schlechter ist als Ihre. Sie können die objektive Wichtigkeit
467 des Lebens einer fremden Person anerkennen, ohne denken zu müssen, daß Sie selbst nicht mehr Geld oder Möglichkeiten haben sollten als diese. Im Zusammenhang mit
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