Gerechtigkeit fuer Igel
behaupten, daß es ein besonderes moralisches Unrecht darstellt, den Tod eines Menschen zu beabsichtigen, und daß dies schlimmer sei, als nur untätig herumzustehen, wenn jemand stirbt, obwohl man dies hätte verhindern können. Sicher empfinden das die meisten von uns so, aber wir müssen verstehen, warum es schlimmer sein soll; schließlich ist der Fremde in beiden Fällen am Ende tot und unsere Absicht – unser eigenes Leben zu retten oder uns vielleicht auch nur Ärger zu ersparen – kann in beiden Fällen dieselbe sein. Manche Philosophen sind der Ansicht, daß es schlimmer ist, jemanden zu töten, als ihm nicht zu helfen, weil Mord eine Verletzung der Unverletzlichkeit der Person darstellt. Von Unverletzlichkeit zu sprechen wiederholt aber nur ein weiteres Mal jene Überzeugung, anstatt sie zu begründen.
Der von mir eben eingeführte Konsequentialist, dem zufolge Töten und Sterbenlassen moralisch gleichzusetzen sind, folgt einer Moral des Selbstverzichts. Er sieht sich selbst einfach
486 als einen unter Milliarden von Menschen, deren Interessen und Schicksal er unpersönlich gewichten muß, ohne seiner eigenen Lage besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. In diesen Kapiteln geht es uns um einen alternativen Ansatz: um eine Moral der Selbstbejahung und gegen die Anonymität, die sich zugleich aus unserem souveränen Streben nach einer gelungenen Lebensführung, die unserer Würde entspricht, speist und in dieses Streben zurückfließt. Das Kant'sche Prinzip ist das Rückgrat dieser Moral. Um unserer Würde gerecht zu werden, müssen wir die objektive Wichtigkeit des Lebens anderer Menschen anerkennen und achten. Auf diese Weise wird die Ethik mit der Moral vereint und prägt ihren Inhalt mit.
Ich habe mich im letzten Kapitel auf das Kant'sche Prinzip berufen, um zu erläutern, warum Menschen unter bestimmten Umständen eine Pflicht haben, Fremden in großer Not zu helfen. Dabei habe ich mich vor allem auf das erste Prinzip der Würde bezogen. Dieses erste Prinzip hilft uns jedoch nicht dabei, das zu Beginn des Kapitels aufgeworfene Problem zu lösen, weil es in beiden Klapperschlangengeschichten gleichermaßen zum Tragen kommt. In der ersten Geschichte mißachten Sie den objektiven Wert menschlichen Lebens nicht, wenn Sie das Gegengift selbst schlucken, anstatt damit das Leben des Fremden zu retten. Sie folgen nur einer vollkommen damit zu vereinbarenden Präferenz für Ihr eigenes Leben. Auch wenn es dem ersten Prinzip nicht widersprechen würde, wenn Sie heroisch Ihr eigenes Leben opfern, damit der Fremde überlebt, verstoßen Sie genausowenig dagegen, wenn Sie die gegenteilige Entscheidung treffen. Wenn dem so ist, kann es aber nicht sein, daß Sie in der zweiten Geschichte die objektive Wichtigkeit des menschlichen Lebens mißachten, wenn Sie den Fremden erschießen, weil darin dieselbe Präferenz für Ihr eigenes Leben zum Ausdruck kommt. Darum müssen wir an dieser Stelle auf das zweite Prinzip der Würde verweisen, um unsere instinktiven moralischen Überzeugungen mit unserer allmählich er
487 worbenen Auffassung einer gelungenen Lebensführung in Einklang zu bringen.
Hier ist mein Vorschlag: Das zweite Prinzip besagt, daß Ihnen eine persönliche Verantwortung für Ihr eigenes Leben zukommt, die Sie weder delegieren noch ignorieren dürfen, und das Kant'sche Prinzip verlangt von Ihnen, dieselbe Verantwortung in anderen Menschen anzuerkennen. Wir müssen diese parallelen Verantwortlichkeiten miteinander versöhnen, indem wir zwei Arten von Schaden voneinander unterscheiden, die Ihnen unter Umständen zugefügt werden, weil andere genau wie Sie versuchen, ihr Leben gemäß ihrer Verantwortung für ihr eigenes Schicksal zu führen. Bei der ersten Art von Schaden handelt es sich um bloßen Konkurrenzschaden, bei der zweiten um eine absichtliche Schädigung. Wenn bloßer Konkurrenzschaden verboten wäre, kämen wir bei dem Versuch, ein eigenes Leben zu führen, kaum aus den Startlöchern. Wir leben unser Leben zumeist wie Schwimmer, die in einem Schwimmbad separate Bahnen nutzen. Der eine sichert sich den Lorbeerkranz, die Arbeitsstelle, den Partner oder das Haus auf dem Hügel, ein anderer hat sich auch um all das bemüht. Manchmal, wenn ein Schwimmer unterzugehen droht und ein anderer ihn retten kann, ohne im Wettrennen allzuviel an Vorsprung einzubüßen, ist letzterer verpflichtet, ersterem zu Hilfe zu kommen. Mit dieser Pflicht haben wir uns im letzten Kapitel befaßt. Dennoch hat
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