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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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an, sie ihm zu überlassen, aber Sie öffnen sie und schlucken das Gegengift. Sie überleben und der andere stirbt. (2) Die zweite Geschichte verläuft wie die erste, nur ist der andere diesmal schneller und schnappt sich die Ampulle. Sie flehen ihn an, sie herzugeben, aber er weigert sich, und macht sich daran, sie zu öffnen und das Mittel zu schlucken. Sie haben eine Pistole dabei, erschießen ihn und nehmen selbst das Gegengift ein. Sie überleben und der andere stirbt.
    Aus einer rein dem unpersönlichen Konsequentialismus verpflichteten Perspektive gibt es moralisch gesehen keinen wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Geschichten, weil das Resultat an sich und unter Abstraktion von allen persönlichen Aspekten dasselbe ist. Wenn Sie ein junger, beliebter und begabter Musiker sind und er ein alter Nichtsnutz, dann kann das ein Grund sein, in der ersten Klapperschlangengeschichte das Gegenmittel zu nehmen und in der zweiten den anderen zu erschießen. Wenn es sich aber genau umgekehrt verhält – wenn Sie also alt und untalentiert sind und er der junge Musiker –, dann ist keine dieser beiden Handlungen gerechtfertigt. Sie sind verpflichtet, mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen das bestmögliche Ergebnis zu erzielen,
484 und was das bedeutet, wird von den Eigenschaften dessen, der überlebt, und dessen, der stirbt, bestimmt, und nicht von der Art und Weise, wie dieses Ergebnis zustande kommt. Wenn Ihr Handeln in beiden Geschichten weitere Folgen nach sich zieht, könnten diese natürlich auch relevant oder ausschlaggebend sein – wenn etwa Ihr Verhalten in der zweiten Geschichte zu einer Schwächung des sehr nützlichen Mordtabus führt, kann es aus diesem Grund moralisch falsch sein, während sich bezüglich Ihrer Einnahme des Gegenmittels in der ersten Geschichte nichts ändert. Wenn wir aber annehmen, daß die beiden Handlungen genau dieselben Konsequenzen haben, weil der Rest der Welt überhaupt nichts davon mitbekommt, muß ein reiner Konsequentialist sie gleich bewerten.
    Gemeinhin wird angenommen, daß derartige Geschichten den Konsequentialismus in ziemliche Verlegenheit bringen, aber es gibt zahlreiche Vertreter dieses Ansatzes, die in anderen Kontexten durchaus bereit sind, von einer solchen vermeintlichen Äquivalenz von Töten und Sterbenlassen auszugehen. Weil in ihren Augen allein die Folgen einer Handlung zählen, gibt es insgesamt betrachtet keinen moralischen Unterschied dazwischen, eine Person sterben zu lassen, wenn man sie retten könnte, und sie direkt zu töten. Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal verhungernder Afrikaner sei also moralisch gleichbedeutend damit, diese zu töten. Die meisten Menschen halten es aber für sehr viel schlimmer, eine Person zu töten, als sie einfach sterben zu lassen. Allgemeiner formuliert: Es scheint viel schlimmer zu sein, jemandem zu schaden, als sich zu weigern, ihm zu helfen, obwohl man die Möglichkeit dazu hätte. Dieser gängigeren Sichtweise zufolge ist es gerechtfertigt, daß Sie das Gegenmittel in der ersten Geschichte für sich selbst behalten, nicht aber, daß Sie den Fremden in der zweiten Geschichte erschießen, um an das Gegenmittel zu kommen; und obwohl es moralisch falsch ist, nicht mehr Geld für Hilfsprogramme für Afrika zu spenden, ist es nicht damit gleichzusetzen, nach Darfur zu fliegen und dort ein paar Menschen
485 zu töten. Wenn wir dem zustimmen, müssen wir jedoch in der Lage sein zu erklären, worin der Unterschied besteht, denn die Folgen scheinen sich in den beiden Szenarien tatsächlich ziemlich zu ähneln.
    Um die wahrscheinlich natürlich erscheinende Position zu rechtfertigen, könnte man an dieser Stelle behaupten, daß jene beiden Klapperschlangengeschichten in Wirklichkeit nicht dieselben Folgen haben, weil zu den Konsequenzen in der zweiten Geschichte auch ein erfolgter Mord und ein Raub gehören, während das in der ersten Geschichte nicht der Fall ist, und Mord und Diebstahl sind etwas Schlechtes. Diese vermeintliche Erklärung verhilft sich aber einfach selbst zu der Schlußfolgerung, die wir eigentlich argumentativ erreichen wollen. Warum ist der Mord an einem Fremden ein moralisch schlechteres Ergebnis, als ihn einfach sterben zu lassen, obwohl wir ihn hätten retten können? Die offensichtliche Antwort, es sei an sich schlechter, jemanden zu töten, als ihn sterben zu lassen, ist aber genau das, was wir zu begründen versuchen. Ebensowenig hilft es, mit manchen Philosophen zu

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