Gerechtigkeit fuer Igel
geht, jemanden (sogar aus denselben Gründen) sterben zu lassen.
Etwas läßt uns vor dem Mord in der zweiten Klapperschlangengeschichte zurückschrecken, nicht aber vor der Selbsterhaltung in der ersten, und meines Erachtens handelt es sich dabei um eine unter Umständen nicht explizit verstandene Intuition,
490 daß dazu, uns als Individuen persönliche Verantwortung für unsere Lebensführung zuzusprechen, gehört, eine Sphäre der Immunität, die uns vor absichtlicher Schädigung, wenn auch nicht vor Konkurrenzschaden schützt, anzuerkennen. Vielleicht kommt manchen Menschen das von mir verwendete Bild der Schwimmer, die in voneinander abgegrenzten Bahnen schwimmen, angesichts der Idee, daß die Menschheit eine große Familie ist, abstoßend vor. Ich denke dabei aber nicht an ein darwinsches Bild der Natur – »rot an Zähnen und Klauen« – und das ist ein wichtiger Unterschied. In der ersten Klapperschlangengeschichte schwimmen Sie auf Ihrer eigenen Bahn und ignorieren den Fremden, der auf seiner Bahn unterzugehen droht. In der zweiten Geschichte dringen Sie in seine Bahn ein und usurpieren seine Verantwortung, sein eigenes Leben zu kontrollieren. Aus der unpersönlichen Perspektive ist dieser Unterschied nicht einmal sichtbar; er tritt nur hervor, wenn wir die Idee der Würde ins Zentrum rücken, die ebenfalls aus der unpersönlichen Perspektive unsichtbar bleibt.
Dieser Zusammenhang von Schädigung und persönlicher Verantwortung erklärt nicht nur, warum es einen echten und wichtigen Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen gibt, sondern auch, warum dieser unter ganz spezifischen Umständen keine moralische Relevanz hat. Letzteres ist der Fall, wenn die geschädigte Person der Verletzung in Ausübung ihrer eigenen Verantwortung für ihr Leben zugestimmt hat. Wenn im American Football ein Spieler einen anderen anrempelt, dann ist das ebensowenig eine Würdeverletzung, wie wenn ein Arzt einen sterbenden Patienten auf dessen dringlichen und überlegten Wunsch hin tötet. Es handelt sich dabei um gezielt erlaubte Eingriffe, und nicht um Usurpation. Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüfte, die die Tötung auf Verlangen durch einen Arzt auch im Fall von Patienten verboten, die einem qualvollen Tod ins Auge sahen, haben die Kläger gegen diese Gesetze darauf hingewiesen, daß der Gerichtshof zuvor
491 Gesetze für verfassungswidrig erklärt hatte, die es Ärzten verboten haben, lebensverlängernde Maßnahmen für sterbende Patienten einzustellen.
2 Einige Richter wiesen diese Analogie zurück und erklärten, es wiege moralisch gesehen viel schwerer, einen Patienten zu töten, indem man ihm Gift injiziert, als ihn sterben zu lassen, indem man lebensverlängernde Maßnahmen einstellt.
3 In den beiden Klapperschlangengeschichten ist dieser Unterschied entscheidend, aber im Fall des assistierten Suizids erscheint er als bizarr. Der Verweis auf die Bedeutung der Verantwortung für die Würde zeigt uns, warum das so ist.
Unabsichtliche Schädigung
In einer Hinsicht ist das sehr rudimentäre Bild, das ich gezeichnet habe und in dem es Menschen verboten ist, auf eine andere Bahn zu wechseln, um anderen absichtlich Schaden zuzufügen, allzu primitiv, weil es den Fall unabsichtlicher Schädigung außer acht läßt. Nehmen wir an, daß ich Ihnen eine Droge verkaufe, die unvorhergesehene Nebenwirkungen hat und Sie krank macht, daß ich sehr unvorsichtig Auto fahre und Sie in einen Unfall verwickle oder daß mein Löwe aus meiner Wohnung entwischt und in Ihre eindringt, wo er trotz meiner Bemühungen, ihn wieder einzufangen, Ihr Sofa zerfetzt. In all diesen Fällen erleiden Sie einen Schaden aufgrund dessen, was ich getan habe. Es war nicht beabsichtigt, aber um Fälle bloßer Konkurrenz handelt es sich auch nicht. Der Schaden, den Sie erleiden, ist nicht einfach darauf zurückzuführen, daß mir etwas gelungen ist, das Sie auch hätten erreichen wollen.
Von diesen fiktiven Fällen wird die Frage der Haftungsverantwortung aufgeworfen, die ich bereits im sechsten Kapitel angesprochen habe. Wer sollte die Kosten für diese Unfälle tragen? Zunächst einmal ist der von mir verursachte Verlust Ihre Sache: Sie werden krank, haben ein gebrochenes Bein oder
492 ein ruiniertes Sofa. Muß ich Sie dafür entschädigen? Das ist zum einen eine moralische Frage der kompensatorischen oder distributiven Gerechtigkeit und zum anderen eine ethische der
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