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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Vielleicht wollen Sie damit Ihre Unabhängigkeit von konventionellen bürgerlichen Erwartungen unter Beweis stellen. Ist dieses Verhalten mit der Überzeugung vereinbar, daß einem jeden Menschenleben große objektive Wichtigkeit zukommt? Meines Erachtens ist das nicht der Fall, weil Ihr Verhalten dem Ernst der Situation nicht gerecht wird. Es gibt Gelegenheiten, in denen man seinen Launen freien Lauf lassen kann, aber jemand, der denkt, dies sei eine solche, kann nicht ernsthaft behaupten, die objektive Wichtigkeit allen Menschenlebens anzuerkennen. Insofern eine andere Entscheidung nicht durch weitere Gesichtspunkte, und sei es einen fairen Losentscheid, empfohlen wird, muß die Standardentscheidung sein, die zwei Leben zu retten, nicht weil dies die Welt insgesamt besser macht, sondern weil diese Situation es von uns erfordert, das Leben ernst zu nehmen und daher irgendeinen über unsere Laune hinausgehenden Grund zur Rechtfertigung unseres Handelns zu haben. Das Prinzip, dem zufolge es besser ist, mehr Menschenleben zu retten als weniger, ohne in Betracht zu ziehen, um wessen Leben es sich handelt, ist eine plausible, wenn auch nicht alternativlose Interpretation dessen, was die richtige Art von Achtung der Wichtigkeit des Lebens von uns verlangt. Das konkurrierende Prin
481 zip, dem zufolge es besser ist, weniger Menschenleben zu retten als mehr, kann nicht auf diese Weise verstanden werden. Dieses vermeintliche Prinzip ist einfach nur pervers.
    Bizarre Fälle
    In diesem Kapitel habe ich mich auf konstruierte und bizarre Beispiele bezogen, wie sie in der Philosophie häufig diskutiert werden. Manche Menschen stehen solchen Beispielen skeptisch gegenüber, weil wir im gewöhnlichen Leben nie mit den beschriebenen Situationen konfrontiert seien und wir daher unseren Reaktionen auf Fragen dieser Art – ob wir etwa den einen oder die beiden Schwimmer retten sollten –, wenn wir ihnen in Seminaren oder akademischen Texten begegnen, nicht trauen sollten. Dieser Einwand setzt jedoch ein Verständnis des Wesens und Ziels der Moralphilosophie voraus, das wir zurückgewiesen haben, und zwar, daß moralisches Nachdenken irgendwie eine Frage der Wahrnehmung ist: daß die moralische Wahrheit sich auf uns mittels einer spezifisch moralischen Sensibilität auswirkt, so daß uns unsere moralischen »Intuitionen« in Analogie zu unseren Wahrnehmungen der Welt der Natur auf der Suche nach der Wahrheit zu leiten vermögen.
    Wenn dem so wäre, sollten wir tatsächlich moralischen Eindrücken gegenüber skeptisch sein, die nicht durch die tatsächliche Begegnung mit realen Ereignissen, sondern durch Beschreibungen von manchmal als kaum möglich erscheinenden Ereignissen hervorgerufen werden, also von konstruierten Fiktionen, die man für nützlich hält. (Wir würden unserer Wahrnehmung seltsamer Tiere in einem exotischen Dschungel, die wir zuvor noch nie gesehen haben, zu Recht mißtrauen.) Die von uns verfolgte interpretative Herangehensweise schreibt solchen bizarren Beispielen jedoch eine ganz andere argumentative Kraft zu. Sie ähneln jenen rein hypothetischen Fällen, die sich Juristen ausdenken, um ein Prinzip zu überprüfen, das
482 sie für einen tatsächlichen Fall vorschlagen. Wenn wir über diese Fälle nachdenken, geht es nicht darum zu spekulieren, was wir erkennen würden, wenn wir uns tatsächlich mit ihnen konfrontiert sähen, sondern darum herauszufinden, was die Integrität von uns verlangen würde, wenn wir die auf diese Weise getesteten Prinzipien übernehmen würden. Wenn wir aber feststellen, daß wir unsicher oder sogar voller Zweifel sind, ob wir sie in jenen unrealistischen Phantasieszenarien akzeptieren würden, heißt das noch nicht, daß wir sie zurückweisen müssen. Nur wenn wir wirklich sicher sind, daß wir die Prinzipien in solchen Szenarien ablehnen würden, müssen wir das auch in dem gewöhnlichen Fall, mit dem wir tatsächlich konfrontiert sind, tun.
14 Auf diesen Punkt komme ich am Ende des nächsten Kapitels zurück, in dem die Beispiele noch um einiges exotischer ausfallen werden.

483 Kapitel 13
Schädigung
    Konkurrenz und Schädigung
    Beginnen wir mit zwei traurigen Geschichten. (1) Sie sind gemeinsam mit einem Fremden auf einer Wanderung in der Wüste Arizonas, werden beide von einer Klapperschlange gebissen und sehen im Sand eine Ampulle mit dem Gegengift liegen. Sie stürzen sich beide auf die Ampulle, aber weil Sie näher dran sind, bekommen Sie sie zu fassen. Der andere fleht Sie

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