Gerechtigkeit fuer Igel
beantworten. Ein Versprechen greift dem moralischen Sachverhalt nicht voraus. Wenn keine bestimmte Verantwortung oder Verbindung im Hintergrund steht, kann ein Versprechen folgenlos sein. Stellen Sie sich vor, ich würde Ihren Namen zufällig aus dem Telefonbuch auswählen und Ihnen das folgende schreiben: »Hiermit verspreche ich Ihnen, daß ich nächsten Juli von Land's End nach John O'Groats laufen werde. Gezeichnet: Ihr ergebenster Diener Ronald.« Selbst in weniger verrückten Fällen sind wir uns zuweilen unsicher, ob etwas wirklich ein Versprechen war oder ob die betreffende Person ein solches einhalten muß. Weil wir es hier aber nicht mit einer eigenständigen sozialen Praxis zu tun haben, von der automatisch Verpflichtungen
526 generiert werden, sondern statt dessen mit einer parasitär auf der allgemeineren Pflicht, anderen nicht zu schaden, aufsitzenden Praxis, können wir keinen Ratgeber konsultieren, in dem die Regeln des Versprechens niedergelegt sind. Um jene Fragen zu beantworten, müssen wir eine Interpretation der Praxis des Versprechens entwickeln, die diese in einem übergreifenden Netzwerk ethischer und moralischer Überzeugungen verortet.
Lassen Sie uns mit einer Überlegung beginnen, die meines Erachtens für eine gelungene Interpretation zentral ist: Beim Geben von Versprechen geht es darum, die Schwelle für akzeptable Entschuldigungen für die Enttäuschung absichtlich ermutigter Erwartungen sehr hoch anzusetzen. Dadurch wird eine ganze Reihe von Entschuldigungen untauglich, die vollkommen ausreichend wäre, wenn wir die betreffende Person auf andere oder weniger vehemente Weise darin bestärkt hätten, sich auf uns zu verlassen. Meines Erachtens folgt daraus, daß auch die Schwelle dafür, ob eine Handlung oder Geste als Versprechen betrachtet wird, sehr hoch angesetzt werden muß: Die Beweislast liegt bei demjenigen, der sagt, daß ein Versprechen vorliegt, und nicht bei dem, der das verneint; und wenn keine eindeutige Auslegung möglich ist, spricht das gegen denjenigen, für den es von Vorteil wäre, wenn ein Versprechen vorläge. (Im Bereich des Vertragsrechts liegen die Dinge etwas komplizierter.) Zugleich müssen wir aber, wenn wir davon ausgehen, daß tatsächlich ein Versprechen vorliegt, einen ebenso anspruchsvollen Maßstab anlegen, um die vorgebrachten Entschuldigungen zu testen, wie wir es bei unbezweifelbaren Fällen von Schädigung tun würden – etwa im Fall von Mißhandlung oder gezieltem Vandalismus.
Natürlich hängt die Frage, was für eine Entschuldigung erforderlich ist, wie ich bereits erklärt habe, auch davon ab, wie groß der Schaden ist, der letztendlich entstanden ist oder riskiert wurde. Es ist normalerweise nicht so schlimm, ein Versprechen, gemeinsam zu Abend zu essen, nicht zu halten, aber
527 das gilt auch für sehr geringfügige Körperverletzungen, die im Grunde eine Bagatelle sind. Allerdings reicht die Tatsache, daß kaum oder gar kein Schaden entstanden ist, selbst nicht als Entschuldigung aus. Ich habe auch dann ein Recht darauf, daß Sie Ihr Abendessen-Versprechen einhalten, wenn es nicht wirklich einen Unterschied machen würde, ob ein Gast mehr oder weniger dazukommt, weil es an mir und nicht an Ihnen wäre, zu entscheiden, ob ein Schaden vorliegt. Wenn ich darauf bestehe, daß Sie kommen, genügt es nicht, einfach zu sagen, daß Sie eine interessantere Einladung erhalten haben, selbst wenn Sie mehr zu verlieren hätten, als ich zu gewinnen. Aufgrund der Tatsache, daß Sie sich auf eine bestimmte Weise in meine Angelegenheiten eingemischt haben, ist die Schwelle für das, was als Entschuldigung in Frage kommt, höher, wenn auch nicht so hoch, daß zum Beispiel die Erkrankung Ihres Sohns nicht zählen würde. Diese immer noch fast platitüdenhaften Überlegungen stellen uns aber keine feste Regel zur Verfügung, mittels deren wir konkrete Fälle des Gebens und Brechens von Versprechen prüfen könnten. Festhalten läßt sich nur, daß unsere Bemühung um Klarheit bezüglich des Haltens von Versprechen, die sich auf allgemeine Überzeugungen über die Schädigung anderer Menschen beziehen, um dann mit diesen in Einklang gebracht zu werden, diese Frage sehr ernst nehmen muß – aber auch nicht zu ernst.
Assoziative Verpflichtungen
Verantwortung und soziale Rollen
Warum sollte die Tatsache, daß andere Mitglieder meiner Gemeinschaft der Meinung sind, daß ich meinen Kindern, Eltern, Geliebten, Freunden, Kollegen oder Mitbürgern gegenüber
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