Gerechtigkeit fuer Igel
heraus. Wenn sie immer wieder innehalten und darüber nachdenken würden, was sie ihren Lieben eigentlich schulden, oder unter welchen Umständen es die Würde anderer verletzen würde, bestimmten Verpflichtungen nicht nachzukommen, würden sie sich, wie man heute gern sagt, einfach zu viele Gedanken machen. Doch auch dieser Einwand geht am eigentlichen Punkt vorbei. Es kann durchaus sein, daß anständige Menschen sich ihrer Verpflichtungen gegenüber den ihnen nahestehenden Menschen nie bewußt sind und vielleicht verstimmt wären zu hören, daß ihr Verhalten irgend etwas mit einem Gefühl von Verpflichtung zu tun haben soll. Das ändert jedoch nichts daran, daß sie diese Verpflichtungen haben und ihre Kraft hin und wieder doch spüren, etwa wenn sie keine Lust haben, ein problematisches Elternteil zu ertragen. Ihre Verpflichtungen verschwinden nicht einfach, wenn sie dieselben ignorieren, und jenes anstrengende Elternteil wird diesen Punkt wahrscheinlich bei passender Gelegenheit deutlich zur Sprache bringen. Wir müssen also einerseits die Verpflichtungen selbst und andererseits auch das Verhalten von Menschen, die sich ihrer nie bewußt sind und auch nie an sie erinnert werden müssen, erklären.
533 Konvention und Verantwortung
Die allgemeinen moralischen Prinzipien, die ich in den vorangehenden Kapiteln entwickelt habe, bilden eine grobe Grundlage für Rollenverpflichtungen. Ohne bereits auf die moralische Kraft bestimmter Konventionen zurückzugreifen, machen sie im Rahmen bestimmter Beziehungen eine gesteigerte Rücksichtnahme erforderlich. Trotzdem sind jene mit bestimmten Verpflichtungen einhergehenden Beziehungen in konkrete soziale Kontexte eingebettet und daher nie vollkommen frei vom Einfluß der einschlägigen Konventionen. Selbst die am stärksten biologisch begründeten Relationen haben eine gewisse kulturelle Prägung, weil es den biologischen Tatsachen etwas hinzufügt, wenn wir einen Menschen als Vater oder Mutter identifizieren, und tatsächlich sind jene Tatsachen nicht einmal eine Voraussetzung hierfür; was letztlich hinzukommt, ändert sich abhängig von Zeit und Ort. Das bedeutet aber nicht, daß Rollenverpflichtungen »bloß konventionell« sind. Weil jene Konventionen nichts selbst entstehen lassen, sondern einfach allgemeine bereits vorausgesetzte Prinzipien und Verantwortungen präzisieren und gestalten, haben wir es hier mit echten Verpflichtungen zu tun.
Je detaillierter die betreffenden Konventionen erstens sind, desto weniger Raum für Unsicherheit darüber, was als verbotener Schaden gelten würde, lassen sie. Ohne konventionelle Vorschriften wäre es bestenfalls unklar, wer als besonders zu berücksichtigendes Familienmitglied gilt oder welche Arten von Bevorzugung im Zusammenhang mit Freundschaft erlaubt oder sogar verlangt sind. Soziale Praktiken schränken je nach kulturellem Umfeld und den historischen Verhältnissen diese Bereiche der Unsicherheit ein. Zweitens bewirken Konventionen, daß eine Verletzung der Würde sehr viel wahrscheinlicher ist, wenn die so ausgearbeiteten Verantwortungen verletzt werden, und zwar weil eine solche Mißachtung der jeweiligen Beziehung nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche
534 Bedeutung hat. Weil Rollenkonventionen stipulieren, welche Handlungen im Zusammenhang mit einer bestimmten Beziehung gefordert oder verboten sind, legen sie ein Verhaltensvokabular fest, das die mit einer bestimmten Form der Assoziation einhergehende wechselseitige besondere Berücksichtigung entweder zum Ausdruck bringt oder leugnet. Diese beiden Eigenschaften führen zu dem bereits erwähnten progressiven feedback loop .
Die von mir vorgeschlagene Analogie zu rassistischen Verunglimpfungen als einer anderen Form sozialer Bedeutsamkeit ist auch hier treffend. Genau wie ein Wort, das in den Wortschatz des Hasses integriert wurde, ohne eine ausführliche Erklärungsbeigabe nicht von dieser Assoziation befreit werden kann, kann man die Verweigerung einer von einer Rollenkonvention geforderten Hilfsleistung nicht von dem so signalisierten Mangel an Respekt trennen, ohne ebenso ausführliche und teilweise riskante Erklärungen anzubieten. Konventionen können Rollenverpflichtungen also prägen und stärken. Die von ihnen geweckten Erwartungen können nicht als bloße Voraussagen ohne moralische Kraft abgetan werden, weil sie nicht nur von den Praktiken selbst, sondern von den grundlegenderen Verantwortlichkeiten, die jene Praktiken präzisieren und
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