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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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dieselbe besondere Rücksicht zuteil wird. Wenn jene Bindung aber einseitig bleibt und der Mensch, mit dem ich eine besondere Beziehung zu unterhalten glaube, mich wie jeden beliebigen Fremden behandelt, dann untergräbt das außer in ganz besonderen Fällen tatsächlich meine Verantwortung für mich selbst. Statt zu den mit einer besonders wertgeschätzten Beziehung einhergehenden Vorteilen, um die es mir zu tun war, kommt es in einem solchen Fall nur zu Enttäuschungen und tatsächlich auch zu einer Form von Unterordnung.
    Nur durch die besondere Priorität der Liebe von Eltern zu ihren Kindern und umgekehrt und die wechselseitige Verantwortung, die daraus automatisch entsteht, wird das, was ansonsten in beide Richtungen Sklaverei wäre, ins Gute gewendet. Die Freiheit der Eltern, ihr eigenes Leben zu gestalten, wird von der Verantwortung für ihre Kinder dramatisch eingeschränkt, und zumindest für eine gewisse Zeit sind Kinder dem Willen ihrer Eltern fast vollkommen unterworfen. Charles Dickens hat mit der Figur der Frau Jellyby wesentliche Aspekte dieses Umstands eingefangen. Frau Jellyby übt sich in »teleskopischer Philanthropie« auf Kosten ihrer eigenen Kinder, die von ihr vernachlässigt werden und in Chaos und Schmutz leben. Wir betrachten sie nicht als Heilige, weil vor dem Hintergrund ihrer größeren Sorge um die Armen Afrikas die totale Kontrolle, die sie nichtsdestotrotz über ihre eigene Familie ausübt, als Tyrannei erscheint. Was uns absurd erscheint, ist nicht, daß ihr ihre Kinder weniger bedeuteten als fremde Menschen, sondern daß sie ihr nicht sehr viel mehr bedeuteten.
    Andere weniger intensive Beziehungen haben eine eigene interne Logik. Wenn zwei sich auf ein Unternehmen formal festgelegt haben oder informell zu einem Unternehmen zusam
531 mentun, ist es betrügerisch, wenn ein Partner sich dem gemeinsamen Erfolg beider nicht verpflichtet fühlt. Natürlich erfordert eine solche Partnerschaft nur eine sehr viel begrenztere Verantwortung, als sie mit Beziehungen einhergeht, in denen es um Liebe geht. Im Berufsleben muß ich meinen Kollegen auf besondere Weise berücksichtigen, nicht aber außerhalb dessen, zumindest wenn er nicht zugleich ein Freund ist, da Freundschaft ebenfalls etwas Besonderes ist, wenn auch auf andere Weise. Eine anhaltende Freude an der Gesellschaft einer anderen Person, um die man sich aktiv bemüht, muß nicht unbedingt mit irgendeiner Form von Liebe einhergehen, wenn aber, wie Aristoteles es ausdrückte, nicht ein über das, was man beliebigen Fremden entgegenbringt, hinausgehendes Interesse am anderen um seiner selbst willen mit im Spiel ist, wäre die Beziehung auf unangenehme Weise ein Mittel zum Zweck. Wenn Gesten der Freundschaft nicht mit einer besonderen und reziproken Berücksichtigung beantwortet werden, ist auch das eine Verletzung der Würde.
    An dieser Stelle sind zwei Einwände denkbar, die in unterschiedliche Richtungen gehen. Vielleicht finden Sie meine Darstellung zu moralisierend und würden es vorziehen, die evolutionäre Bedeutung oder die langfristigen Vorteile der hier angesprochenen Beziehungen hervorzuheben und somit auch den instrumentalen Wert von Verpflichtungen, durch die sie geschützt werden. Sie halten es möglicherweise für ganz natürlich, daß Liebespaare, Eltern oder Kinder sich füreinander verantwortlich fühlen. Wie im Rest des Buches auch geht es hier aber um eine Rechtfertigung jener Verpflichtungen, und nicht um eine Erklärung dessen, wie sie entstanden sind oder warum sie fortbestehen. Dem Umstand, daß sie eine emotionale Wirkung haben, die natürlich gegeben, allgegenwärtig und stark ist, kommt dabei aber durchaus eine Rolle zu: Eben weil solche Beziehungen fast immer eine solche Kraft haben, erleben wir es als Verletzung unserer Würde, wenn sie nicht vorhanden ist oder auf einer Täuschung beruht. Unsere Verpflichtung, ande
532 ren dieses spezifische Leid nicht zuzufügen, beruht aber nicht auf dem evolutionären Wert dieser Emotionen, sondern darauf, daß es sich um das Zufügen eines Schadens handelt.
    Umgekehrt können Sie auch der Meinung sein, daß meine Einstellung den ethischen Aspekt nicht ausreichend in den Vordergrund stellt. Vielleicht denken Sie, daß anständige Menschen sich nicht für verpflichtet halten, ihren Kindern, Geliebten, Eltern oder Freunden mit besonderer Wertschätzung zu begegnen; diese Menschen sind ihnen einfach wichtig und darum handeln sie vollkommen instinktiv aus diesem Gefühl

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