Gerechtigkeit fuer Igel
unterschiedliche Erwartungen haben. Diese angeblichen Rechtfertigungen der Rollenpraktiken helfen nicht, weil sie voraussetzen, daß es bei der Praxis letztlich nur um Konventionen geht, die über den Bereich des Konsenses nicht hinausreichen.
537 Wenn wir feststellen, daß Rollenpraktiken echte, aber unentscheidbare Verantwortungen klären, die aus der inneren Beschaffenheit der Beziehungen hervorgehen, auf denen sie aufbauen, haben wir eine Grundlage, auf der wir sie interpretieren können wie alles andere auch. Die lange Erörterung der Interpretation im siebten und im achten Kapitel ist darum hier relevant. In einem früheren Buch habe ich ein Beispiel vorgeschlagen, das speziell auf die Interpretation konventioneller Praktiken zugeschnitten ist, von denen angenommen wird, daß sie Verpflichtungen nach sich ziehen.
13 Manchmal sind wir innerhalb einer einzigen Gemeinschaft unterschiedlicher Meinung darüber, was die Höflichkeit verlangt, vor allem wenn alte Konventionen des Respekts langsam zerfallen. Welchen Zweck die Praxis letztendlich hat, darüber bildet sich jeder von uns eine andere Meinung aus, mit Hilfe von größtenteils unreflektierten, aber dennoch kontroversen Annahmen.
Wenn ein Freund Sie um finanzielle Hilfe bittet und Sie zögern, denken Sie nicht über den zugrundeliegenden Zweck von Freundschaft nach, um zu entscheiden, ob Sie seiner Bitte entsprechen müssen. Aber eine bestimmte Reaktion auf seine Bitte wird Ihnen aufgrund Ihrer unreflektierten Auffassung davon, was Freundschaft ist und bedeutet, richtig erscheinen, und Ihre Entscheidung wird diese Auffassung noch festigen und in Kraft treten lassen und somit Ihre Reaktion auf zukünftige parallele Fragen darüber, was man seinen Freunden schuldet, mitbestimmen. Das ist eine interpretative Reaktion. Wenn wir versuchen würden, sie als Argumentation zu rekonstruieren, würden wir mit bestimmten Annahmen darüber, welche Form und welcher Grad gesteigerten Interesses Freundschaft voraussetzt und verlangt, beginnen. Vielleicht sind Sie sich dieser Vorannahmen nicht bewußt und haben nicht einmal gemerkt, daß Sie hier etwas argumentativ begründen. Vielleicht sagen Sie, daß Sie einfach »gesehen« haben, daß Freundschaft ebendies verlangt oder nicht verlangt. Es gab aber nichts, was Sie hätten »sehen« können, denn Ihre Reaktion wird nur verständ
538 lich, wenn wir annehmen, daß Ihre Erfahrung ein interpretatives Verständnis jenes Begriffs verankert hat, das unreflektiert und sofort abrufbar geworden ist.
14 All das ist nur eine Wiederholung dessen, was bereits in meinen Ausführungen zur Interpretation gesagt wurde, und wendet es auf das Phänomen der assoziativen Verpflichtung an.
Politische Verpflichtung
Ein Paradox
In der Rechtsphilosophie und der Politischen Philosophie wird debattiert, ob Menschen eine moralische Verpflichtung haben, den Gesetzen ihrer Gemeinschaft einfach deshalb zu gehorchen, weil es sich dabei um ihre Gesetze handelt – ob sie also das haben, was oft als »politische Verpflichtung« bezeichnet wird. Es geht nicht darum, ob Menschen einen Grund haben, sich politischer Autorität zu unterwerfen. Ein in der Philosophie oft gespieltes Spiel besteht darin, sich vorzustellen, daß Menschen in einem »Naturzustand« ohne ein Regierungssystem leben, und sich dann zu überlegen, welche Gründe sie in dieser Situation hätten, eine Regierung einzusetzen. Die Beliebtheit dieses Gedankenexperiments erklärt teilweise die ebenfalls beliebte, aber falsche Annahme, daß Legitimität auf der einstimmigen Zustimmung der Regierten beruht und daher auf einer phantasierten Geschichte oder Fiktion über diese Zustimmung. Um diese Frage geht es hier aber nicht. Zwischenstaatliche Grenzen und damit auch Herrschaftsansprüche uns wohlbekannter Staaten und ihrer Regierungen sind Ergebnisse historischer Zufälligkeiten. Fast alle von uns werden ohne unser Zutun in solche Staaten hineingeboren oder gebracht. Haben wir eine Verpflichtung, den Gesetzen eines Staates, in dem wir zufällig geboren wurden, zu gehorchen?
Natürlich haben wir normalerweise einen unabhängigen
539 moralischen Grund, zu tun, was rechtlich von uns gefordert wird, und nicht zu tun, was verboten ist. Mord ist verboten und Mord ist moralisch falsch. Die Frage der politischen Verpflichtung wird dann virulent, wenn wir keinen zusätzlichen Grund haben, zu tun, was vom Gesetz verlangt wird. Wenn ein Gesetz von Regierungsvertretern, für die ich nicht gestimmt habe,
Weitere Kostenlose Bücher