Gerechtigkeit fuer Igel
verabschiedet wird und ich es für schlechte Politik und prinzipiell falsch halte, habe ich wahrscheinlich einen wichtigen praktischen Grund, ihm dennoch zu gehorchen; ich könnte verhaftet oder gezwungen werden, eine Strafe zu zahlen, wenn ich das nicht tue. Aber gibt mir die bloße Tatsache, daß es sich um ein Gesetz handelt, darüber hinaus einen dezidiert moralischen Grund, es zu befolgen? Die Frage ist hier nicht, ob es je gerechtfertigt ist, ein Gesetz zu brechen. Ich kann durchaus akzeptieren, daß ich im Prinzip eine stehende Verpflichtung habe, den Gesetzen meiner Gemeinschaft zu gehorchen, und zugleich denken, daß ein bestimmtes Gesetz so ungerecht oder so unklug ist, daß ich es mit guten Gründen ignorieren kann. So denken Menschen, die glauben, daß ziviler Ungehorsam manchmal moralisch gerechtfertigt oder sogar gefordert ist. Für sie stellt die Erlaubtheit des Ungehorsams in spezifischen Situationen eine Ausnahme von einem allgemeinen Prinzip dar, das verlangt, sich auch Gesetzen zu unterwerfen, von denen man nicht überzeugt ist, die man aber nicht für verwerflich hält.
Manche Philosophen – man nennt sie »Anarchisten«, obwohl sie generell keine Bomben legen oder Bärte tragen – bestreiten, daß die bloße Tatsache der Verabschiedung eines Gesetzes selbst in einer Gemeinschaft, deren Strukturen und Gesetze insgesamt gerecht sind, einen unabhängigen moralischen Grund dafür darstellt, dem Gesetz Folge zu leisten.
15 Wir haben eine Pflicht, dem Gesetz zu gehorchen, wenn ein davon unabhängiger Grund dafür spricht: etwa wenn das Gesetz soziale Gerechtigkeit fördert oder wenn die Gemeinschaft als Ganze davon profitieren würde. Aber die bloße Tatsache,
540 daß ein Gesetz entsprechend der von der politischen Praxis und den vorherrschenden Konventionen vorgeschriebenen konstitutionellen Verfahren verabschiedet wurde, reicht dieser Sichtweise zufolge nicht aus.
Anarchisten verlassen sich oft auf eine allgemeine philosophische These: Sie glauben, daß niemand eine Verpflichtung hat, wenn er sie nicht aus freien Stücken akzeptiert hat. Sie haben recht damit, daß politische Verpflichtungen nicht freiwillig sind, außer im seltenen Fall der Einbürgerung. Die ehemals populäre Idee, daß Menschen eine Verpflichtung eingehen, den Gesetzen ihrer Gemeinschaft Folge zu leisten, wenn sie diese nicht verlassen, ist zu abwegig, um heute noch ernst genommen zu werden. In der Politischen Philosophie wurden viele andere Möglichkeiten diskutiert, die Idee zu verteidigen, daß politische Verpflichtung auf Zustimmung beruht. Sie sind aber alle gescheitert und ohnehin nicht notwendig, weil die sehr verbreitete Annahme, daß Verpflichtungen nur echt sind, wenn sie freiwillig sind, selbst nicht haltbar ist. Die moralischen Verantwortlichkeiten, um die es in den letzten beiden Kapiteln ging, sind nicht freiwillig, da ich, ob ich will oder nicht, einen Menschen, der vor meinen Augen ertrinkt, retten muß, wenn mir das leicht möglich wäre. Auch einige der am Anfang dieses Kapitels angesprochenen assoziativen Verpflichtungen sind unfreiwillig – Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen –, und die meisten der übrigen sind nur teilweise freiwillig: Die meisten Freundschaften entstehen zum Beispiel eher beiläufig, und wir alle pflegen Freundschaften, die nicht auf eine bewußte Entscheidung zurückgehen. Philosophen, die davon ausgehen, daß nur freiwillige Verpflichtungen echt sein können, widersprechen sich außerdem selbst, weil sie annehmen müssen, daß die Verpflichtung, ein Versprechen zu halten oder einen Eid zu achten, echt ist, obwohl sie nie akzeptiert wurde. Hinter jeder freiwilligen Verpflichtung steht eine unfreiwillige.
Das ist aber noch kein positives Argument für eine politische Verpflichtung, weil es nur bedeutet, daß Anarchisten die
541 Debatte nicht sofort für sich entscheiden können, indem sie auf ein allgemeines Prinzip der Verpflichtung und der Zustimmung verweisen. Trotzdem haben sie recht damit, viele der vorgebrachten Argumente abzulehnen. Die Erwartung der anderen, daß Sie den Gesetzen Ihrer Gemeinschaft gehorchen werden, reicht nicht aus, um Sie moralisch zu verpflichten, das auch zu tun, und es stimmt auch nicht, daß Sie verpflichtet sind, die mit einer politischen Assoziation einhergehenden Lasten auf sich zu nehmen, wenn Sie die entsprechenden Vorteile genießen. Wenn die Anarchisten unrecht haben und es tatsächliche eine politische Verpflichtung gibt, so
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