Gerechtigkeit fuer Igel
schützen, genährt werden. Die Verpflichtung bestimmt die Erwartung und nicht umgekehrt, und jene Verpflichtung verschwindet nicht mit der Erwartung – wenn sich Eltern zum Beispiel mit der Gleichgültigkeit ihrer Kinder abfinden. Reziproke Interaktionen zwischen zugrundeliegender Verantwortung und sozialen Konventionen erklären eine weitere und entscheidende Eigenschaft dieser Verpflichtungen. Rollenkonventionen können nicht automatisch echte assoziative Verpflichtungen generieren, sondern nur, wenn sie einer unabhängigen ethischen und moralischen Prüfung standhalten. Sexistische oder rassistische Praktiken, oder solche wie die sogenannte Ehre unter Mördern, Drogendealern oder Dieben, führen nicht dazu, daß die betreffenden Menschen eine echte Verpflichtung ha
535 ben, selbst wenn sie jene Verpflichtungen noch so sehr zu akzeptieren scheinen. Mafiaschläger haben mit der Zeit bestimmte Erwartungen, sie finden die Praktiken ihrer Organisation nützlich, machen von ihnen Gebrauch und betrachten jeden Loyalitätsbruch anderer als Verletzung ihrer Würde. Wenn ein Mitglied ihrer Organisation sich vor den daraus entstehenden Lasten drückt, betrachten sie das als Trittbrettfahren, was sehr gefährlich sein kann. Wenn wir aber verstehen, daß aus Rollenpraktiken nur deswegen echte Verpflichtungen folgen, weil jene Praktiken uns erlauben, unseren bestehenden ethischen und moralischen Verpflichtungen nachzukommen – und daher nur, wenn das tatsächlich der Fall ist –, wird auch deutlich, daß keine Verpflichtungen entstehen können, wenn eine Praxis dem Erreichen dieses Ziels nicht zuträglich, sondern hinderlich ist. Soziale Praktiken ziehen einzig dann echte Verpflichtungen nach sich, wenn sie den Prinzipien der Würde entsprechen; wenn sie also mit einer gleichen Wertschätzung aller Menschenleben vereinbar sind und vor diesem Hintergrund verbotene Arten der Schädigung anderer nicht zulassen. Sie können eine Sonderbehandlung bestimmter Menschen erfordern, Haß oder Mord aber nicht rechtfertigen.
Soziale Rollen und Interpretation
Wir haben uns bisher darauf konzentriert, wie soziale Praktiken und Konventionen tatsächliche Verpflichtungen entstehen lassen können. Viel wichtiger ist aber, um welche Verpflichtungen es sich dabei handelt. Rollenpraktiken reduzieren die Unsicherheit von Menschen angesichts der Entscheidung darüber, was sie den ihnen nahestehenden Personen schulden, beseitigen sie aber nicht vollständig. Selbst die explizitesten Rollenkonventionen – etwa jene, die Pflichten der Eltern gegenüber ihren jungen Kindern festlegen – lassen viele Fragen offen. So ist zum Beispiel die schwierige Frage, ob Eltern, die eine pri
536 vate Schulausbildung finanzieren können, statt dessen eine relativ schlechte staatliche Schule in Anspruch nehmen dürfen oder sogar müssen, nicht über Konventionen festgelegt. Viele wichtige Rollenpraktiken – zum Beispiel die der Freundschaft – gehen kaum darüber hinaus, eine Kategorie anzuerkennen, die eine besondere Behandlung rechtfertigt und erforderlich macht, ohne daß genau festgelegt wird, worin diese Sonderbehandlung bestehen kann oder muß. Wen kann ich genau als Freund bezeichnen? Wie grenze ich Freundschaft von Bekanntschaft ab? Kann ich eine unbequeme Freundschaft einfach nach Belieben beenden oder sind einmal geschlossene Freundschaften zäher als das? Wenn letzteres der Fall ist, wie und wann enden sie dann? Zu was bin ich wirklich verpflichtet, selbst wenn es sich um einen engen Freund handelt? Muß ich eventuelle Verbrechen, die er begangen hat, vor der Polizei verheimlichen?
Es gibt unendlich viele solche uns allen vertraute Fragen, selbst wenn wir uns nur auf diese eine Rollenpraxis konzentrieren. Die traditionellen Erklärungen der assoziativen Verpflichtung, die ich zu Beginn dieses Kapitels angesprochen habe, helfen nicht dabei, sie zu beantworten. Wir können eine Verpflichtung, die Belastungen ebenso wie die Vorteile zu akzeptieren, annehmen, aber das kann uns nicht dabei helfen zu entscheiden, um welche es sich dabei handelt. Wir können eine Pflicht akzeptieren, eine existierende Institution, die wir für nützlich halten, zu unterstützen, das trägt aber nichts zu der Entscheidung bei, was diese Institution von uns verlangt. Wir können uns selbst dazu verpflichten, die Erwartungen, die eine bestimmte soziale Praxis mit sich bringt, zu achten, aber das hilft uns nicht dabei, eine Wahl zu treffen, wenn verschiedene Menschen
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