Gerechtigkeit fuer Igel
für eine alternative Vorgehensweise entscheiden – indem wir zum Beispiel einen verschiedenen Kulturen gemeinsamen Nenner suchen –, müssen wir diese Wahl rechtfertigen und für diese Rechtfertigung wiederum Wahrheit und nicht Popularität beanspruchen. Eine durch und durch ökumenische Strategie ist Ausdruck tiefgreifender logischer Verwirrung.
Natürlich müssen wir bei der Entscheidung, welche Konzeption der Menschenrechte in der Praxis Zustimmung finden kann, um in internationale Verträge Eingang zu finden und durchgesetzt zu werden, dem Pluralismus Rechnung tragen. Vielleicht wäre es sogar – obwohl das alles andere als offensichtlich ist – eine kluge politische Strategie, die unserer Sichtweise zufolge gültigen grundlegenden Prinzipien nicht zu betonen, wenn wir wissen, daß andere sie zurückweisen würden. Bevor wir uns aber daranmachen, mit anderen zu verhandeln oder zu versuchen, sie zu überzeugen, sollten wir genau wissen, wie wir selbst zur Frage der Menschenrechte stehen, weil wir ansonsten kein wirkliches Ziel im Blick haben.
574 Menschenrechte und Religion
Daß so viele Menschen in Europa und Amerika darauf bestehen, Menschenrechte mit einer bestimmten religiösen Tradition zu verknüpfen, hat die praktischen und diplomatischen Schwierigkeiten, mit denen wir uns konfrontiert sehen, auf völlig unnötige Weise aufgebauscht. Wenn wir auf einer vermeintlich religiösen Quelle oder Grundlage der Menschenrechte beharren, wird unser Appell an diese Rechte all jene gegen uns aufbringen, deren religiöse Traditionen und Überzeugungen sich von den unseren stark unterscheiden, insbesondere wenn sie genau jene Handlungen, die wir anprangern und zu bestrafen versuchen, für ein Gebot ihrer eigenen Religion halten. Zudem führt es im Hinblick auf unsere eigenen Werte zu einem Paradox, Menschenrechte mit Glaubensüberzeugungen zu begründen. Wir denken, daß die religiöse Toleranz zu den grundlegendsten Menschenrechten gehört und es daher einen Verstoß gegen diese Rechte darstellt, Menschen religiöse Lehren oder Praktiken aufzuzwingen, die sie nicht akzeptieren. Aber tun wir nicht genau das, wenn unsere Armeen in andere Länder unter dem Banner religiöser Rhetorik einmarschieren?
Die all diesen Schwierigkeiten zugrundeliegende Idee, daß die Menschenrechte eine religiöse Grundlage haben, ist sehr alt. Häufig wird angenommen, daß sie auf natürlichen Rechten beruhen. Diese wiederum wurden für Überlieferungen des Naturrechts gehalten, das zumindest in der einflußreichsten Auslegungstradition als göttliches Recht verstanden wurde. Thomas Jefferson mag ein Atheist gewesen sein – darüber sind sich die Historiker uneins –, aber als er es für selbstverständlich erklärte, daß alle Menschen »von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter das Recht auf Leben und Freiheit sowie das Streben nach Glück«, brachte er damit eine weitverbreitete Meinung und Redeweise zum Ausdruck. Der frühere Präsident George W. Bush bezeichnete die Freiheit gern als »Gottes Geschenk an alle Men
575 schen«, als sei unsere Freiheit eine Folge göttlicher Barmherzigkeit. In islamischen Staaten sind die religiösen Ursprünge der Menschenrechte noch offensichtlicher. Artikel 24 der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam erklärt zum Beispiel: »Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia«, und Artikel 25 fügt hinzu: »Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.«
Eine göttliche Autorität kann aber keinesfalls als Grundlage für die Menschenrechte dienen. Vielmehr funktioniert die Argumentationslogik genau andersherum: Wir müssen die unabhängige und logisch vorgängige Existenz von Menschenrechten bereits annehmen, um an die Idee göttlicher moralischer Autorität glauben zu können. Um diese vielleicht radikale Behauptung aufzustellen, muß ich keine besondere Sichtweise über die Existenz oder den Charakter eines Gottes oder mehrerer Götter voraussetzen. Meine Zurückweisung unbegründeter göttlicher Autorität ist nicht im Atheismus oder einer anderen Form des Skeptizismus verankert. Um diesen Punkt zu demonstrieren, werde ich im folgenden davon ausgehen, daß es einen anthropomorphen Gott, wie er in den traditionellen monotheistischen Religionen vorgestellt wird, immer gegeben hat und
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