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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Menschenrechte nur dann, wenn jene Eingriffe ins
569 gesamt nicht mit guten Gründen auf eine der eben genannten Weisen verstanden werden können. Unterschiedliche politische Kulturen, so könnten wir sagen, haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie die persönliche Verantwortung von Individuen geschützt werden sollte.
    Aber auch hier gilt, daß manche Maßnahmen der Regierung nicht als Ausdruck eines wohlmeinenden Versuchs verstanden werden können, diese Verantwortung auszulegen und durchzusetzen, sondern vielmehr als Zurückweisung der persönlichen Verantwortung als solcher begriffen werden müssen. Regierungen, die nur eine bestimmte Religionsausübung erlauben, Häresie und Blasphemie unter Strafe stellen oder prinzipiell das Recht auf freie Meinungsäußerung und eine freie Presse verneinen, verstoßen damit gegen die Menschenrechte. Dasselbe gilt für Regierungen, die Menschen einschüchtern, töten oder foltern, weil sie deren politische Ansichten für verwerflich halten oder fürchten. Das Recht, nicht gefoltert zu werden, wird schon seit langer Zeit für ein paradigmatisches Menschenrecht gehalten und steht auf allen Listen von Menschenrechten an erster Stelle. Wenn man einem Angeklagten im Austausch gegen Informationen bestimmte Vorteile wie eine Haftverkürzung anbietet, so mag das aus anderen Gründen unzulässig sein, aber seine Fähigkeit, Kosten und Folgen abzuwägen, bleibt intakt. Wie ich im zehnten Kapitel bereits angemerkt habe, zielt die Folter darauf ab, diese Fähigkeit zu zerstören und das Opfer auf ein vernunftloses Tier zu reduzieren, das nicht länger zu Entscheidungen in der Lage ist. Hierbei handelt es sich um die schwerste Verletzung der Würde, wie sie von unseren beiden Prinzipien bestimmt wird. Es ist schlichtweg der schlimmste Verstoß gegen die Menschenrechte.
    Auch andere Menschenrechte können durch diesen Test auf überzeugende Weise identifiziert werden. Die Achtung vor der Wichtigkeit allen menschlichen Lebens verbietet es, manchen Menschen zum Vorteil anderer zu schaden, was davon unterschieden werden muß, ihnen einfach nicht zu helfen. Es han
570 delt sich daher um eine Menschenrechtsverletzung, wenn man Unschuldige vorsätzlich bestraft, selbst wenn das vermeintlich im allgemeinen Interesse ist. Genausowenig ist es mit den Menschenrechten vereinbar, Strafen anders als in Verfahren zu verhängen, die Unschuldige in dem vernünftigerweise erwartbaren Maße schützen. Natürlich ist es kontrovers, welche Art von Verfahren, welche Regeln und welche Schutzmechanismen hier gefordert sind, daß aber irgendein Verfahren notwendig ist und Gefängnisstrafen ohne Verfahren daher eine Menschenrechtsverletzung darstellen, ist unumstritten. Wie ich bereits angemerkt habe, sind manche Formen des Paternalismus zumindest einem bestimmten Verständnis zufolge durchaus mit persönlicher Verantwortlichkeit vereinbar. Gesetze, die es Frauen verbieten, Eigentum zu erwerben, einen bestimmten Beruf zu ergreifen oder sich um politische Posten zu bewerben, lassen sich heute nicht mehr mit der Verantwortung von Frauen für ihr eigenes Schicksal vereinbaren. All das sind eindeutige und unanfechtbare Fälle. Manche Handlungen können so schwerwiegende Verstöße darstellen, daß sie förmlich beschlossene ökonomische Sanktionen oder im Fall wirklich barbarischer Akte gar eine Militärintervention rechtfertigen, insofern die beiden etwas weiter oben genannten Bedingungen erfüllt werden. In weniger gravierenden und stärker umstrittenen Fällen ist der angemessene Kontext für die Durchsetzung dieser Rechte nicht so sehr das ökonomische oder militärische Schlachtfeld, sondern die Kammern der internationalen Gerichtshöfe und Tribunale, die sich auf Verträge, das Völkerrecht oder informelleren internationalen Druck verlassen, um Folgsamkeit sicherzustellen.
    Mit diesem Menschenrechtsverständnis läßt sich auch der abstrakte Charakter der Menschenrechtsverträge und -dokumente verstehen, auf den ich bereits hingewiesen habe. Die Präambel der Allgemeinen Erklärung beginnt mit dem Verweis auf die »angeborene Würde […] aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«, und viele der in ihr kodifizierten Rechte
571 scheinen einfach diese ziemlich abstrakte Idee zu reformulieren. Selbst die relativ konkreten Bestimmungen – über Bildung, Arbeit und gleichen Lohn zum Beispiel – verlangen nach einer Interpretation, die ihre Reichweite begrenzt, bevor sie in der Praxis anwendbar werden.

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