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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Wir sollten diese Bestimmungen und ähnliche Formulierungen in anderen Verträgen und Dokumenten nicht als Versuche verstehen, Menschenrechte en detail zu definieren, sondern vielmehr als Hinweise auf besonders sensible Bereiche, in denen die Praktiken eines Staates sehr wohl jene inakzeptable Einstellung zum Ausdruck bringen können, die das grundlegende Menschenrecht verletzt. Damit werden interpretative Fragen aufgeworfen. Ist das Verhalten eines Staates etwa bezüglich der Einschränkung der politischen Rede oder der Presse, der Gesundheitsvorsorge und der öffentlichen Bildung oder der Wirtschaftspolitik im allgemeinen Ausdruck eines wohlmeinenden Versuchs, die von der Allgemeinen Erklärung in ihrer Präambel geforderte Würde zu achten? Oder bringt es vielmehr Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung für diese Würde zum Ausdruck? Wenn letzteres der Fall ist, dann hat dieser Staat der Allgemeinen Erklärung zufolge ein Menschenrecht verletzt. In diesem Verständnis werfen Menschenrechtsverträge und entsprechende Konventionen Fragen auf, auf die es nur interpretative Antworten gibt.
    Diese Auffassung kann auch dazu beitragen, eine aus der theoretischen Diskussion über Menschenrechte vertraute Frage zu beantworten. Sind die Menschenrechte universell? Oder ist jede Liste bloß lokal gültig? Sind die Menschenrechte abhängig von Eigenheiten der lokalen Kultur oder Geschichte, die von der Allgemeinen Erklärung ignoriert werden? Oder sind zumindest manche Menschenrechte unabhängig von solchen besonderen Umständen? Die Antwort lautet: ja und nein. Die Berücksichtigung unterschiedlicher ökonomischer Umstände, politischer und kultureller Eigenheiten und historischer Entwicklungen gehört zum Wesen eines interpretativen Urteils. Solche Unterschiede müssen miteinbezogen werden,
572 weil sie ganz offensichtlich eine Rolle dabei spielen, welche mögliche Interpretation insgesamt gesehen besser zu passen scheint. Handelt es sich dabei um einen Versuch, gleiche Berücksichtigung und Achtung zu verwirklichen, oder um Gleichgültigkeit gegenüber diesen Idealen? Nun, gesundheits- oder bildungspolitische Maßnahmen, die in einem armen Land als wohlmeinender Versuch gelten würden, müssen in einem reichen Land als Ausdruck von Mißachtung verstanden werden. Der abstrakte Standard selbst – die grundlegende Einsicht, daß die Würde die gleiche Berücksichtigung des Schicksals aller und die höchste Achtung vor der persönlichen Verantwortung fordert – ist jedoch nicht relativ, sondern genuin universell.
    Damit will ich nicht sagen, daß dieser Standard von allen akzeptiert wurde oder wird. Ganz im Gegenteil ist das offensichtlich nicht der Fall. Wenn wir jedoch überhaupt an die Menschenrechte glauben – oder überhaupt an irgendwelche Rechte –, dann müssen wir uns in der Frage der wahren Grundlage dieser Rechte entscheiden. Mein Verständnis der Menschenwürde mag unzulänglich sein. Das müssen Sie selbst beurteilen und, so nötig, meinen Ansatz eben verbessern. Wenn Sie aber nicht zu einem globalen Skeptizismus bezüglich der Menschenrechte und der politischen Rechte im allgemeinen neigen, müssen Sie diese Rechte auf eine der meinen vergleichbare Weise begründen und können sie nicht einfach deshalb gutheißen, weil Sie sie in irgendeiner Kultur vorfinden oder weil alle oder die meisten Staaten sie teilen, sondern nur, weil Sie selbst sie für wahr halten. Bei der Anwendung Ihrer grundlegenden Prämisse müssen Sie dann jedoch eine Reihe von Umständen berücksichtigen, die sich von Region zu Region und von Land zu Land unterscheiden. Ihr Urteil muß aber letztlich in etwas Nichtrelativem begründet sein, und zwar in Ihren Ansichten über die Bedingungen der Menschenwürde und die Gefahren, die von zwangsbewehrter Macht für diese Würde ausgehen.
    573 Nun könnten Sie es für etwas arrogant und unhöflich halten, daß man für eine bestimmte Grundlage der Menschenrechte einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt. Meine Konzeption der Würde wurde von einem Kritiker als »theologisch oder dogmatisch« bezeichnet, der es für falsch hält, die Theorie der Menschenrechte in einem bestimmten Wert zu begründen, da unterschiedliche Kulturen unterschiedlichen Werten anhängen.
 7 Genau darum kommen wir aber nicht herum, allerdings geht es nicht darum, einer bestimmten Kultur vor allen anderen den Vorzug zu geben, sondern unserer eigenen Auffassung von Wahrheit. Es gibt keine andere Option. Auch wenn wir uns

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