Gerechtigkeit fuer Igel
eine Regierung als solche legitim ist, bestimmte Entscheidungen und Aktivitäten identifizieren, die sie nicht zu regulieren befugt ist?
Aus dem zweiten Prinzip der Würde geht hervor, warum jede Antwort, die wir auf diese scheinbar so unterschiedlichen Fragen geben, letztlich als Theorie der Freiheit begriffen werden muß. Ihm zufolge muß jedem Menschen Verantwortung für
618 sein eigenes Leben zugestanden werden, und eine solche Verantwortung ist, wie ich im Zusammenhang mit der politischen Verpflichtung im 14. Kapitel erklärt habe, nur dann damit vereinbar, von anderen regiert zu werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, die ich dort zunächst abstrakt formuliert habe. Erstens muß jedem erlaubt sein, sich auf angemessene Weise an den kollektiven Entscheidungen zu beteiligen, auf deren Grundlage er regiert wird, und zweitens dürfen Fragen, die aufgrund der persönlichen Verantwortung von der Person selbst entschieden werden müssen, nicht von irgendwelchen kollektiven Entscheidungen betroffen sein. Weil die persönliche Verantwortung demnach zwei Dimensionen hat, gilt das auch für die Freiheit. Theorien der positiven Freiheit buchstabieren aus, was mit der angemessenen Partizipationsweise gemeint sein könnte und was somit unter Selbstregierung zu verstehen ist, während Theorien der negativen Freiheit erklären, wann eine Wahl von kollektiven Entscheidungen frei sein muß, soll eine Beeinträchtigung der persönlichen Verantwortung vermieden werden. Um ersteres geht es im nächsten Kapitel, um letzteres in diesem. Wenn ich in diesem Kapitel also von Freiheit spreche, dann ist normalerweise die negative Freiheit gemeint, solange eine Unterscheidung von der positiven im betreffenden Kontext nicht erforderlich ist.
Ist ein Konflikt unvermeidlich?
Eine Frage muß aber noch im Vorfeld geklärt werden. In den beiden genannten berühmten Aufsätzen wird die sehr verbreitete Idee vertreten, daß es zu Konflikten zwischen jenen zwei Arten der Freiheit kommen kann, die eine Entscheidung für eine der beiden oder einen Kompromiß notwendig machen. Wenn eine Gemeinschaft entweder von der positiven oder der negativen oder von beiden Arten von Freiheit eine falsche Auffassung hat, ist ein solcher Konflikt natürlich möglich
619 und vielleicht sogar wahrscheinlich. Berlin hat darauf hingewiesen, daß bestimmte totalitäre Denker unter Verweis auf das Ideal der positiven Freiheit ein politisches Regime gefordert haben, in dem die Bürger vorgeblich im Namen ihrer eigenen höheren oder langfristigen Interessen unterdrückt werden, obwohl diese selbst jene Interessen nicht als ihre eigenen anerkennen. Wenn das Ideal der Selbstregierung auf diese Weise korrumpiert wird, kann es zur Rechtfertigung abscheulicher Verletzungen der negativen Freiheit verwendet werden. Im Totalitarismus werden Menschen zum Schweigen gebracht, weggesperrt oder sogar getötet, angeblich um ihr höheres Selbst zu retten. In dieser korrumpierten Form hat die Selbstregierung aber nichts mehr mit persönlicher Verantwortung zu tun; anstatt das zweite Prinzip der Würde umzusetzen, widerspricht sie ihm und kommt als mögliches Verständnis von Freiheit nicht mehr in Frage. Diese historische Beobachtung Berlins kann uns als Warnung dienen, daß schlechte Philosophie gefährlich ist, sie zeigt aber nicht, daß Konflikte auch im Rahmen eines überzeugenderen philosophischen Ansatzes unumgänglich sind.
Berlin selbst hielt Konflikte selbst dann für sehr wahrscheinlich, wenn beide Begriffe richtig verstanden werden: »[Die negative und die positive Freiheit] sind eigenständige Ziele. Es kann zwischen ihnen zu einem unversöhnlichen Gegensatz kommen. […] Soll in einer bestimmten Situation die Demokratie auf Kosten der individuellen Freiheit vorangebracht werden?«
3 Berlin nahm ganz zu Recht an, daß positive Freiheit ein gewisses Maß an Demokratie verlangt. Angesichts der Tatsache, daß die Demokratie eine Vielfalt persönlicher Freiheiten verlangt, ist nicht klar, warum ihre Förderung im Konflikt mit der negativen Freiheit stehen sollte. Zwar hat es tatsächlich demokratische Regierungen gegeben, die aufgrund ihrer spezifischen historischen und lokalen Umstände so schwach und instabil waren, daß man glaubte, bestimmte politische Aktivitäten einschränken zu müssen, um antidemokratische Kräfte
620 daran zu hindern, sie zu zerstören, aber durch jene Einschränkungen wurde die Demokratie selbst ebensosehr wie die negative Freiheit
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