Gerechtigkeit fuer Igel
Unabhängigkeit also nur dann einschränken, wenn das zum Schutz des Lebens, der Sicherheit oder der Freiheit anderer notwendig ist. Welche Entscheidungen darüber hinaus grundlegend sind, ist umstritten, aber eine wirklich ausgearbeitete Konzeption der Freiheit muß auch in dieser Frage Position beziehen.
Manche Gesetze sind nicht deswegen mit der ethischen Unabhängigkeit unvereinbar, weil sie grundlegende Entscheidungen einschränken würden, sondern weil sie aus bestimmten Motiven heraus verabschiedet werden. Eine Regierung darf Freiheit im Sinne von freedom nicht einschränken, wenn eine Rechtfertigung dieser Einschränkung darauf beruht, daß ein in der Gemeinschaft kontroverser Wert als besonders wichtig
625 oder beliebt erachtet wird. In diese Kategorie fallen zum Beispiel die Zensur erotischer Literatur und Gesetze, die vorschreiben, vor der Landesflagge zu salutieren oder andere patriotische Gesten zu absolvieren, weil solche Vorschriften entweder direkt oder indirekt auf eine Entscheidung darüber zurückzuführen sind, welche persönlichen Tugenden in einem guten Leben zum Ausdruck kommen. Manche Gesetze sind auf beide Weisen mit der ethischen Unabhängigkeit unvereinbar. Ein Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex oder der gleichgeschlechtlichen Ehe schränkt grundlegende Entscheidungen ein und ist fast immer von dem Wunsch motiviert, eine bestimmte Auffassung davon, was eine gelungene Lebensführung ist, zu schützen und andere Ansichten zum Verschwinden zu bringen. In Wort und Schrift dem eigenen Gewissen oder den eigenen Glaubensüberzeugungen entsprechen zu können, ist eine grundlegende Freiheit, und in bestimmten Fällen kann die Zensur politischer Äußerungen nur über unzulässige ethische Vorannahmen begründet werden.
Unsere ethische Unabhängigkeit steht also nur dann nicht auf dem Spiel, wenn es entweder nicht um eine grundlegende Frage geht oder keine ethische Rechtfertigung für jene Einschränkung durch die Regierung vorgelegt wird. Wenn meine Regierung mich zwingt, knappe Ressourcen nicht zu verschwenden, meine Steuern zu zahlen und umsichtig zu fahren, beruft sie sich dabei nicht auf ethische, sondern auf moralische Argumente. Natürlich können auch Gesetze, durch die unsere ethische Unabhängigkeit auf keine dieser beiden Weisen beeinträchtigt wird, nichtsdestotrotz in erheblichem Maße einschränken, was für ein Leben den Bürgern möglich ist. Wenn in meinem Staat Körperverletzung und Diebstahl verboten sind, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß mir das Leben eines Samurai oder eines Robin Hood ideal erscheinen wird, zudem würden jene Verbote solche Lebensentwürfe entscheidend erschweren. Bestimmte Steuersätze können es unwahrscheinlicher machen, daß ich das Sammeln von Renaissancegemäl
626 den als ein erstrebenswertes Ideal betrachte. Solche Gesetze sind aber durchaus mit meiner Verantwortung vereinbar, meine eigenen ethischen Werte selbst zu bestimmen, weil es nicht darum geht, meine Verantwortung dafür, selbst zu entscheiden, was ein gelungenes Leben ausmacht, zu usurpieren. All jene zulässig motivierten Gesetze meiner Gemeinschaft gehören zu dem Hintergrund, vor dem ich meine ethischen Entscheidungen treffe, und meine Verantwortung für das Treffen solcher Entscheidungen wird durch diesen Hintergrund nicht tangiert.
Wie wichtig diese Unterscheidung ist, wird in der philosophischen Diskussion über den Paternalismus meines Erachtens weitgehend unterschätzt. Eine Anschnallpflicht, die zum Ziel hat, das Verletzungsrisiko zu verringern oder eventuelle Verletzungen abzumildern, ist kein Beispiel für ethischen Paternalismus. Medizinischer Paternalismus mag zuweilen ebenfalls problematisch sein, wird jedoch die Authentizität der Lebensgestaltung nicht beeinträchtigen. Obwohl natürlich viele Menschen behaupten – einige vielleicht sogar in vollem Ernst –, daß eine riskante Lebensweise an sich durchaus etwas für sich hat und daß die Möglichkeit, ein solches Leben zu führen, eingeschränkt wird, wenn man sich im Auto anschnallen muß, handelt es sich dabei nicht um eine grundlegende Frage. Darum kann die Regierung Maßnahmen zur Verringerung der aus Unfällen für die Gemeinschaft anfallenden Kosten rechtfertigen, ohne voraussetzen zu müssen, daß es sich bei einem solchen Flirt mit der Gefahr um eine schlechte Lebensweise handelt. Lange Zeit ist es nicht schwer gewesen, echte Fälle von ethischem Paternalismus zu finden. Die Inquisition ist ein
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