Gerechtigkeit fuer Igel
aufzuzwingen, die angeblich zu ihrem eigenen Besten ist, ihrer eigenen Vorstellung von diesem Besten aber nicht entspricht. Bei der von mir vorgeschlagenen hypothetischen Versicherung werden hingegen Annahmen darüber gemacht, welche Präferenzen Bürger in einer so nie von ihnen erlebten Situation hätten. Die Annahme, daß ein Mensch unter gewissen Umständen eine bestimmte Form von Versicherung erwerben würde, weil das bei den meisten wohl der Fall wäre, ist nicht paternalistischer, als anzunehmen, daß er das nicht tun würde, und ihn dementsprechend zu behandeln.
Das von mir vorgeschlagene System wäre also zwar probabilistisch, aber nicht paternalistisch. Wir können über niemanden mit Gewißheit sagen, daß er sich anders entschieden hätte, als wir es von den meisten Menschen erwarten würden. Unsere Fragestellung ist zu kontrafaktisch, als daß ein derart individualisiertes Urteil möglich wäre, und darum kann jenes Ge
613 dankenexperiment nur statistische Aussagen generieren. Es wäre natürlich denkbar, daß sich ein Mensch tatsächlich nicht so entschieden hätte, aber das ist kein Problem des Paternalismus, sondern eines der Fairneß. In unserem Umgang mit individuellen Bürgern müssen wir eine von zwei Vorannahmen wählen, und es scheint fair, sie, insofern keine gegenteiligen Informationen vorliegen, so zu behandeln, als hätten sie sich für das entschieden, was wir von den meisten erwarten würden.
Dies ist also unsere Rechtfertigung. Jeder soll möglichst die wahren Opportunitätskosten seiner Entscheidungen zahlen. Obwohl wir uns in Produktion und Entlohnung auf existierende Märkte verlassen müssen, müssen wir hier auf unterschiedlichste Formen der Subventionierung und der Korrektur zurückgreifen. Wir müssen vor allem die Auswirkungen von Pech und anderen Schicksalsschlägen beseitigen, indem wir festlegen, was ein umfassender und fairer Markt wahrscheinlich als Opportunitätskosten einer Versicherung gegen diese Risiken bestimmt hätte. Obwohl wir hier natürlich kontrafaktische Wahrscheinlichkeitsannahmen machen müssen, scheint das fairer zu sein, als Schicksalsschläge überhaupt nicht auszugleichen oder in politischen Verfahren, in denen nur rein instinktive und theoretisch nicht weiter fundierte Fairneßerwägungen zum Tragen kommen, bestimmen zu lassen, wie hoch die Umverteilungszahlungen sein sollen; das Ergebnis würde in der Praxis wohl eher knauserig ausfallen. Obwohl für das Gedankenexperiment einer hypothetischen Versicherung recht grobe Wahrscheinlichkeitsurteile notwendig sind, scheint es eine gute Wahl zu sein, weil es meines Erachtens einer auf den Opportunitätskosten beruhenden Auffassung von Fairneß besser entspricht. Ich halte es daher für am besten geeignet, um die gleiche Berücksichtigung aller und die angemessene Achtung vor der persönlichen Verantwortung zum Ausdruck zu bringen. Vor dem Hintergrund des umfassenden interpretativen Projekts dieses Buches sollten wir uns also für ein Verteilungssystem entscheiden, das auf dem Modell einer hypothe
614 tischen Versicherung aufbaut. (Amartya Sen hat eine Reihe weiterer Einwände gegen dieses Gedankenexperiment angeführt.
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Noch einmal Laisser-faire
Damit ist meine grobe Skizze der Blaupause einer politischen Einigung abgeschlossen, in der das Bemühen einer Regierung zum Ausdruck kommt, alle gleichermaßen zu berücksichtigen und zudem ihre persönliche Verantwortung zu achten. (An anderer Stelle bin ich ausführlich darauf eingegangen, was für ein Steuersystem hieraus abzuleiten ist und welche Sozialausgaben vor diesem Hintergrund gerechtfertigt wären.
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Mein auf Ex-ante -Kompensation abzielender Ansatz sollte aber nicht mit jenem anderen oft zu Unrecht unter dem Titel »Chancengleichheit« firmierenden Ex-ante -Ansatz verwechselt werden, der unter politisch konservativen Denkern sehr beliebt ist. Letzterem zufolge müssen wir, um alle gleichermaßen zu berücksichtigen, den Dingen ihren Lauf lassen, jede Umverteilung von Marktgewinnen verbieten und uns damit abfinden, daß Menschen, denen ein Unglück zustößt, eben mit den Folgen leben müssen. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Variante des bereits erörterten Laisser-faire -Gedankens. Während Vertreter dieses Ansatzes behaupten, daß er das individuelle Verantwortungsbewußtsein fördert, könnten Menschen, die wenige wirtschaftlich verwertbare Talente oder einfach nur Pech haben, beanstanden, nicht gleichermaßen berücksichtigt zu
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