Gerechtigkeit fuer Igel
Weise schützt. Zu akzeptieren, daß eine Mehrheit Ihrer Mitbürger das Recht hat, Verkehrsregeln festzulegen und auch durchzusetzen, ist nicht entwürdigend, solange jene Regeln weder böse noch vollkommen unsinnig sind. Dasselbe gilt für das Recht dieser Mehrheit festzulegen, wem welches Eigentum zukommt und welche Rechte oder Schutzansprüche damit einhergehen. Hingegen wäre es immer ein Verstoß gegen Ihre Würde, wenn die Mehrheit das Recht hätte, Ihnen eine religiöse Überzeugung oder Praxis aufzuzwingen oder vorzuschreiben, welche Meinungen Sie in politischen Diskussionen zum Ausdruck bringen können und welche nicht, selbst wenn es sich dabei um eine überwältigende Mehrheit handelt. Unter Umständen sind Sie gezwungen, sich solchen Geboten zu fügen, aber Sie sollten das nicht als legitim erachten oder denken, daß Sie verpflichtet sind, sie zu akzeptieren. Berlins Gleichsetzung bringt den Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Einschränkung zum Verschwinden, und darum müssen wir uns um eine komplexere Interpretation bemühen, die es uns erlaubt, ihn zu berücksichtigen.
Es ist verlockend, an jene Gleichsetzung einfach einen Zusatz anzuschließen und zu sagen, daß die negative Freiheit im Sinne von liberty nicht der totalen Freiheit im Sinne von freedom entspricht, sondern nur einen substantiellen Teil von ihr darstellt. Das würde bedeuten, daß ein Gesetz nur dann einen Eingriff in die Freiheit darstellt, wenn es unsere Freiheit im Sinne von freedom in erheblichem Maße einschränkt. Wie können wir aber einschätzen, in welchem Maße das bei einer bestimmten Vorschrift der Fall ist? Ein psychologischer Test, der unsere subjektive Frustration mißt, wird hier nicht helfen. Menschen
623 finden ganz unterschiedliche Dinge frustrierend, und zudem sind viele von Geschwindigkeitsbegrenzungen frustrierter, als sie es von politischer Zensur wären. Es bedarf also eines radikaleren Umdenkens, und wir müssen einen expliziter normativen Begriff der Freiheit entwickeln.
Eine integrierte Auffassung von Freiheit
Noch einmal Würde
Lassen Sie uns ein weiteres Mal zu den zwei Prinzipien der Würde zurückkehren, denen wir seit ihrer Einführung im neunten Kapitel einiges an Gehalt verliehen haben. Indem ich zunächst auf die Ethik, dann die persönliche Moral, die politische Verpflichtung und die politische Legitimität eingegangen bin und schließlich im Zusammenhang mit der distributiven Gleichheit gefragt habe, wie eine Regierung die gleiche Berücksichtigung aller damit vereinbaren kann, diese Menschen in umfassendem Maße zu achten, habe ich sie Stück für Stück weiter ausgearbeitet. Am Anfang stand ein noch sehr rudimentäres Verständnis davon, was Würde ist, und es war zunächst nicht klar, ob dieser Begriff für unsere Absichten vielleicht zu zahnlos ist, wie verschiedentlich behauptet wird. Inzwischen verfügen wir aber über eine sehr viel anspruchsvollere Auffassung von Würde. Taugt sie auch für eine genauere Bestimmung der Freiheit? Wenn uns eine solche Bestimmung gelingt, hätten wir damit diesen wichtigen politischen Wert mit den anderen Werten in Einklang gebracht, auf die ich in den vorangehenden Kapiteln bereits eingegangen bin.
624 Ethische Unabhängigkeit
Kommen wir nun auf eine Unterscheidung zurück, die ich im neunten Kapitel im Rahmen der Erörterung ethischer Unabhängigkeit getroffen habe, und zwar zwischen dem, was eine Regierung ihren Bürgern unter keinen Umständen antun darf, und dem, was mit bestimmten Gründen gerechtfertigt werden kann. Bestimmte Zwangsgesetze verletzen die ethische Unabhängigkeit, weil sie uns die Möglichkeit nehmen, auf grundlegende Fragen eine eigene Antwort zu finden – also zum Beispiel darauf, wie die objektive Wichtigkeit des menschlichen Lebens, die von dem ersten Prinzip der Würde gefordert wird, beschaffen ist und worin sie gründet. In diesen Bereich fallen etwa die Religionszugehörigkeit, persönliche intime Bindungen und die Selbstverpflichtung auf ethische, moralische oder politische Ideale. In diesem Zusammenhang haben die Richter des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, die mehrheitlich dagegen stimmten, es US -amerikanischen Bundesstaaten zu erlauben, frühe Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten, von »Fragen der Autonomie« gesprochen. Bei solchen Entscheidungen haben wir ein Recht auf Unabhängigkeit, solange wir damit nicht die Unabhängigkeit anderer gefährden. Die Regierung darf jene grundlegende
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