Gerechtigkeit fuer Igel
besagt, daß
638 menschliches Leben intrinsisch wichtig ist, und dazu gehört notwendigerweise auch das Leben eines menschlichen Fötus, bei dem es sich zweifellos um ein menschliches Leben handelt. Ich habe bereits auf die doppelte Konsequenz dieses ersten Prinzips hingewiesen. Wir alle müssen in unserer Lebensweise Anerkennung und Achtung vor der objektiven Wichtigkeit unseres eigenen Lebens zum Ausdruck bringen, um unserer Würde gerecht zu werden. Zudem müssen wir auch andere auf eine Weise behandeln, die anerkennt, daß ihre Leben wichtig sind. Was das aber genauer bedeutet, ist damit noch nicht gesagt. Ich bin in den vorangegangenen Kapiteln darauf eingegangen, inwieweit jene Achtung vor menschlichem Leben verlangt, anderen zu helfen und wann wir ihnen nicht schaden dürfen. Verändern sich diese Anforderungen, wenn ein menschliches Leben noch sehr jung ist? Haben wir gegenüber einem Fötus in frühen Entwicklungsphasen dieselbe Pflicht zu helfen und nicht zu schaden wie gegenüber Menschen, die eine komplexere Entwicklungsstufe erreicht haben?
Diese Fragen sind zugleich moralischer und ethischer Natur, und ob Abtreibungen moralisch vertretbar sind, hängt davon ab, wie wir sie beantworten. Meines Erachtens müssen wir die zweite Frage mit nein beantworten. Weil ein Fötus in den ersten Entwicklungsphasen ebensowenig wie eine Blume eigene Interessen hat, kann nicht davon ausgegangen werden, daß er Anspruch auf den Schutz dieser Interessen hat. Sehr wenige Menschen glauben tatsächlich, daß wir einem Fötus gegenüber dieselbe moralische Pflicht haben wie gegenüber einem Kind, und auch Menschen, die der Meinung sind, daß Abtreibungen generell verboten werden sollten, sind nichtsdestotrotz dafür sie zuzulassen, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung war oder eine Abtreibung notwendig ist, um das Leben der Mutter zu retten. Selbst wenn wir aber jene moralische Frage verneinen und erklären, daß die betreffenden Frauen keine moralische Pflicht haben, eine Schwangerschaft nicht abzubrechen, bleiben bestimmte wichtige ethische Fragen offen,
639 weil es durchaus sein kann, daß eine Abtreibung nichtsdestotrotz mit der von unserer Würde verlangten Achtung vor dem menschlichem Leben unvereinbar ist. Obwohl Gemälde und uralte Bäume keine eigenen Interessen und daher auch keinen moralischen Anspruch auf deren Schutz haben, ist es dennoch mit der Anerkennung ihres intrinsischen Werts unvereinbar, sie zu zerstören. Aus diesem Grund ist es wichtig, in den Debatten über Abtreibung und damit verwandte Themen zwischen dem moralischen und dem ethischen Aspekt der sich hier stellenden Fragen zu unterscheiden.
Die moralische Frage muß kollektiv innerhalb einer politischen Gemeinschaft entschieden werden. Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1973 zum ersten Mal darüber befinden mußte, ob ein US -amerikanischer Bundesstaat in seiner Verfassung Abtreibungen grundsätzlich verbieten darf, mußten sich die Richter zu jener moralischen Frage verhalten und haben sie verneint. Viele Kritiker dieser Entscheidung sind der Meinung, daß der Gerichtshof es den Staaten hätte erlauben sollen, jeweils zu einem eigenen Ergebnis zu kommen, statt ihnen eine Entscheidung vorzugeben, aber dieser Gedanke ist Ausdruck einer gewissen Verwirrung: Staaten können nicht ermächtigt werden, selbst zu entscheiden, ob eine bestimmte Gruppe ihrer Mitglieder ermordet werden darf. Ein vernünftigerer Einwand wäre, daß der Oberste Gerichtshof infolge des Urteils, daß eine Abtreibung kein Mord ist und daß daher der in der Verfassung garantierte gleiche Rechtsschutz die Bundesstaaten nicht dazu verpflichtet, sie kategorisch zu verbieten, ihnen die Entscheidung, ob man sie aufgrund ethischer Erwägungen verbieten sollte – also mit der Begründung, daß darin eine Mißachtung des intrinsischen Werts menschlichen Lebens zum Ausdruck kommt –, hätte überlassen müssen. Im Fall Roe vs. Wade sah sich der Oberste Gerichtshof tatsächlich mit dieser entscheidenden Frage konfrontiert, ebenso später im Fall Planned Parenthood vs. Casey , wobei sie in letzterem Urteil, in dem die Entscheidung für eingeschränkte Ab
640 treibungsrechte noch einmal bekräftigt wurde, deutlicher erkannt und besser beantwortet wurde.
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Das Recht auf ethische Unabhängigkeit läßt hier nur eine Antwort zu. Wenn die Regierung Freiheit im Sinne von freedom einschränkt, um ein kollektives ethisches Urteil durchzusetzen, dann verstößt
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