Gerechtigkeit fuer Igel
das Gefühl der Teilhabe an der Selbstregierung. Zudem kann sich eine Veränderung in die andere Richtung als sinnvoll erweisen. Die inzwischen lange andauernden und bisher enttäuschenden Versuche, der Europäischen Union eine neue Verfassungsordnung zu geben, sind Beleg sowohl der Vorteile als auch der Schwierigkeiten des Übergangs von kleineren und homogeneren zu größeren und intern heterogenen politischen Gemeinschaften. Meines Erachtens würden sowohl die europäischen Staaten als auch die Welt als Ganze davon profitieren, wenn es der EU möglich wäre, eine gemeinsame Außenpolitik zu formulieren, diese mit der ökonomischen Macht dieser Gemeinschaft durchzusetzen und so gemeinsam stark zu sein.
Aber üblicherweise sind solche Grenzziehungen letztlich den Zufällen der Geschichte geschuldet. Wir werden in politische Gemeinschaften hineingeboren und unterstehen ihrer legitimen Regierung, wenn jene die in diesem Buch und diesem Kapitel diskutierten Legitimitätsanforderungen erfüllt, zu denen auch gehört, daß niemand per Gesetz an der Auswanderung gehindert wird. Wer einen Kilometer von der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada oder von jener zwischen Frankreich und Deutschland entfernt lebt, wird recht anders regiert als die Menschen auf der anderen Seite der Grenze, und diese Unterschiede lassen sich durch kein abstraktes Prinzip der Politischen Philosophie rechtfertigen. Jeder Versuch,
646 vermeintlich vernünftigere Grenzen festzulegen, wird nur neue unzufriedene Minderheiten schaffen, die an die Stelle der durch diese Veränderung zufriedengestellten alten treten. Da wir einen den gesamten Globus umspannenden demokratischen Staat ausschließen, in dem die Bevölkerung aller Kontinente das Wahlrecht hätte – was zum einen unmöglich erscheint und zum anderen nur dazu führen würde, daß mit der Schaffung der notwendigen Untereinheiten dieselben Fragen wieder neu aufkommen –, scheint es nur selten überzeugende Gründe für eine Korrektur der historisch entstandenen politischen Gemeinschaften zu geben.
Zwei Modelle der Selbstregierung
Nehmen wir also an, daß eine bestimmte politische Gemeinschaft die richtige oder zumindest nicht die falsche ist. In ihr regiert das richtige Volk sich selbst, und zwar indem es Repräsentanten unterschiedlicher Art auf unterschiedlichen Ebenen wählt, die dann die staatliche Zwangsgewalt im Namen des Volkes ausüben. Dabei kann die genaue Gestaltung der Wahl der Repräsentanten und der Struktur der Regierung jedoch sehr unterschiedlich ausfallen, denn die Systeme, die wir in der heutigen Welt als demokratisch anerkennen, unterscheiden sich in dieser Hinsicht gewaltig voneinander. In manchen Systemen werden besonders wichtige Entscheidungen in Volksentscheiden getroffen, in denen das ganze Volk direkt über politische Fragen abstimmt; in anderen wird das ausdrücklich vermieden. In einigen Systemen werden die Repräsentanten in kürzeren Abständen gewählt als in anderen, in einigen gilt das Verhältniswahlrecht, in anderen das Mehrheitswahlrecht, und in einigen haben nicht demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates, etwa die Richter des Verfassungsgerichts, beträchtliche Macht. Anhand welcher Prinzipien sollen wir diese unterschiedlichen Verfassungsordnungen beurteilen? Sind
647 einige von ihnen besser mit der Idee der Menschenwürde zu vereinbaren als andere? Ermöglichen die einen mehr positive Freiheit oder mehr echte Selbstregierung als andere? Gibt es einen grundlegenden Maßstab, anhand dessen wir die verschiedenen Formen der Demokratie miteinander vergleichen und als über- oder unterlegen oder als mehr oder weniger authentisch beurteilen können?
Das bringt uns zu dem entscheidenden Punkt zurück, daß »Demokratie« ein interpretativer Begriff ist und wir uns uneins darüber sind, was er bedeutet. Wir entscheiden uns zwischen konkurrierenden Konzeptionen, indem wir davon ausgehen, daß ein bestimmter Wert oder eine Reihe von Werten am besten erklären, was an der Demokratie gut ist, sofern das überhaupt möglich ist. Wie immer neigen manche Philosophen zu einer reduktionistischen Lösung und schlagen vor, die Debatte darüber, was Demokratie ist, zu beenden und sich statt dessen einfach darüber zu streiten, welche Regierungsform die beste ist; und wie jedes Mal untergräbt diese reduktionistische Strategie sich letztlich selbst, da sie uns dazu zwingt, wichtige Unterscheidungen zwischen jenen Werten zu ignorieren, um die es in jener
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