Gerechtigkeit fuer Igel
fällt nicht deshalb unter die Redefreiheit, weil es eine politische Position zum Ausdruck bringt – das wäre etwas weithergeholt –, sondern weil, wie bereits gesehen, die möglichen Gründe für ein entsprechendes Verbot nicht mit der ethischen Unabhängigkeit vereinbar sind.
Zensur kann daher nicht nur die positive Freiheit einschränken, sondern zudem das Recht auf Unabhängigkeit auf die beiden hier beschriebenen Weisen verletzen. Das zeigt sich zum Beispiel am Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Faktoren im Zusammenhang mit Versuchen der Regierung, sogenannte hate speech zu verbieten. Ein Gericht im US -amerikanischen Bundesstaat Ohio hat in den 1960er Jahren einen Anführer des Ku-Klux-Klan der Verbreitung von Haß gegenüber schwarzen und jüdischen Menschen schuldig gesprochen.
10 Diese Auslegung des Rechts schränkt seine positive Freiheit ein, weil ihm verboten wird, seine Mitbürger von seinen politischen Ansichten zu überzeugen. Das verstößt gegen sein Recht auf ethische Unabhängigkeit, weil die öffentliche politische Meinungsäußerung ein grundlegendes Recht ist und keine unmittelbare Gefahr der Gewaltanwendung gegenüber anderen gegeben war. Wenn das Gerichtsverfahren nicht aus Furcht vor einer solchen Gewaltanwendung angestrengt wurde, sondern aus einer berechtigten Abscheu vor seiner Geringschätzung der Wichtigkeit bestimmter Leben, wäre das ebenfalls eine Verletzung seiner ethischen Unabhängigkeit. Letztlich wurde das
632 Urteil durch den Obersten Gerichtshof aufgehoben, aber mir geht es hier nicht um die Geschichte des US -amerikanischen Verfassungsrechts, sondern darum, wie Aspekte der positiven und der negativen Freiheit im Rahmen des durchaus ehrenvollen Schutzes der Rechte eines abscheulichen Menschen zusammenspielen können.
Wir müssen hier zwischen verschiedenen Rechtfertigungen unterscheiden: solchen, die sich auf positive, auf negative oder auf beide Arten der Freiheit berufen, und solchen, welche die Redefreiheit aus politisch-praktischen Erwägungen heraus verteidigen. John Stuart Mill, Oliver Wendell Holmes und andere haben betont, daß die uneingeschränkte Meinungsäußerung eine wichtige Quelle des Wissens ist. Holmes, der sich gern einer evolutionstheoretischen Metaphorik bediente, hielt überzeugendere Ideen für überlegen in einem intensiven Darwin'schen Konkurrenzkampf, von dem kein noch so unattraktiver oder unplausibler Gedanke im voraus ausgeschlossen werden sollte. Das mag im ganzen und langfristig gesehen richtig sein, obwohl es in Fragen der politischen Moral und der ästhetischen Vorlieben weniger offensichtlich ist als im Rahmen der Wissenschaft. Ein zweites politisch-praktisches Argument in diesem Zusammenhang bezieht sich auf die sogenannte kommerzielle Rede. Hier wird argumentiert, daß ein freier Fluß von Informationen über die Verfügbarkeit, den Preis und die Eigenschaften der zum Verkauf stehenden Produkte wirtschaftlich gesehen im Interesse der Öffentlichkeit ist. Die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten zur Frage, inwieweit solche Rede – also Werbung – vom ersten Verfassungszusatz geschützt ist, ist sehr umfassend und leider wenig beeindruckend. Alles in allem besagen die etwas inkonsistenten Urteile, daß kommerzielle Rede bis zu einem gewissen Grad von der Verfassung geschützt wird, aber nicht in demselben Maße wie politische Meinungsäußerungen.
Daß kein politisches Recht absolut ist und sogar die Rede
633 freiheit ihre Grenze hat, ist ein Gemeinplatz. Wie jene Grenzen aber beschaffen sind und wie sie gerechtfertigt werden, hängt davon ab, welche der von mir bereits angesprochenen Rechtfertigungen jenes Rechts jeweils zum Tragen kommt. Aus den politisch-praktischen Erwägungen ergeben sich in diesem Zusammenhang automatisch bestimmte Grenzen. Ob die Öffentlichkeit etwa ein Interesse an falschen oder irreführenden Informationen in Form von Werbung, an Werbung ohne vernünftige Warnhinweise oder an Werbung für illegale Tätigkeiten hat, ist bestenfalls zweifelhaft. Solche kommerzielle Rede scheint für die Öffentlichkeit eher schädlich als nützlich zu sein.
Auf eine der beiden Arten von Freiheit verweisende Rechtfertigungen gehen mit anderen Grenzen einher, weil sie nicht in allen Situationen greifen. Wie ich bereits erklärt habe (und im nächsten Kapitel nochmals resümieren werde), beeinträchtigt es die positive Freiheit nicht, wenn Spenden im Rahmen von Wahlkampagnen gewissen
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