Gerechtigkeit fuer Igel
dem aus die Verbindungen zwischen diesen beiden vermeintlich getrennten Systemen beurteilt werden könnten. Worauf sollen wir uns beziehen, um die Frage zu beantworten, ob der Positivismus oder der Interpretivismus eine angemessenere oder sonstwie bessere Konzeption der Verbindung beider Systeme darstellt? Wie wir uns auch entscheiden, wir geraten in einen argumentativen Zirkel, dessen Radius viel zu klein ist.
Nehmen wir an, wir behandeln diese Frage als eine des
681 Rechts. Wir beziehen uns auf rechtliche Phänomene – Verfassungen, Gesetze, Urteile, gewohnheitsmäßige Praktiken und ähnliches – und fragen: Was für eine Auffassung von der Verbindung zwischen Recht und Moral folgt aus einer richtigen Interpretation dieser Phänomene? Diese Frage können wir nicht beantworten, ohne eine Theorie der richtigen Interpretation rechtlicher Phänomene vorauszusetzen, und eine solche Theorie können wir erst dann haben, wenn wir zu einer bestimmten Auffassung darüber gelangt sind, welche Rolle die Moral für die Bestimmung des Inhalts des Rechts hat. Wenn wir danach fragen, ob die rechtlichen Phänomene eine Verbindung zwischen Recht und Moral bestätigen oder nicht, setzen wir dann voraus, daß zu diesen Phänomenen nicht nur Regeln mit einer bestimmten Herkunft in konventionellen Praktiken gehören, sondern auch jene Prinzipien, die nötig sind, um diese Regeln zu rechtfertigen? Wenn das nicht der Fall ist, haben wir den Positivismus bereits in unsere Grundannahmen eingebaut und sollten dann nicht erstaunt tun, wenn wir am Ende zu dieser Position gelangen. Wenn wir die rechtfertigenden Prinzipien aber mitberücksichtigen, dann haben wir den Interpretivismus bereits vorausgesetzt.
Suchen wir die Antwort in der Moral, sind wir mit dem spiegelbildlichen Problem konfrontiert. Wir können fragen: Wäre es aus der Perspektive der Gerechtigkeit gut, wenn die Moral jene Rolle im rechtlichen Denken spielen würde, die der Interpretivismus ihr zuschreibt? Oder wäre es besser für den moralischen Charakter einer Gemeinschaft, wenn Recht und Moral voneinander getrennt werden, wie die Positivisten insistieren? Diese Fragen sind sicherlich sinnvoll und von zentraler Bedeutung für die Rechtswissenschaft. Im Rahmen der Zwei-Systeme-Sichtweise können sie aber nur zu zirkulären Argumenten führen. Wenn Recht und Moral zwei getrennte Systeme sind, dann setzt es das erst zu Beweisende bereits voraus, wenn wir annehmen, daß die Frage nach der überzeugendsten Theorie des Rechts von solchen moralischen Fragen abhängt. Das wür
682 de bedeuten, daß wir uns bereits gegen den Positivismus entschieden haben.
Analytische Rechtswissenschaft?
Die Zwei-Systeme-Sichtweise ist aus diesen Gründen mit einem scheinbar unlösbaren Problem konfrontiert: Sie wirft eine Frage auf, die nur beantwortet werden kann, wenn wir eine Antwort bereits von Beginn an voraussetzen. Diese logische Schwierigkeit erklärt auch eine Tatsache, die uns andernfalls erstaunen müßte, nämlich die von Positivisten im 19. Jahrhundert eingeleitete Wende der angloamerikanischen Rechtswissenschaft hin zu der merkwürdigen Vorstellung, daß die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral weder ein rechtliches noch ein moralisches, sondern ein begriffliches Problem darstellt und daher durch eine Analyse des Begriffs des Rechts selbst gelöst werden kann. (Oder etwas genauer formuliert: durch eine Analyse des doktrinären Begriffs des Rechts.
6 ) Wir können den Positivisten zufolge zur Natur oder zum Wesen dieses Begriffs vordringen, ohne irgendwelche rechtlichen oder moralischen Vorannahmen zu machen, und dann deutlich erkennen, daß das Recht, wie es ist, und das Recht, wie es sein sollte, zwei völlig unterschiedliche Sachen sind, so daß Recht und Moral begrifflich voneinander verschieden sind. In der Folge ließ sich aber eine noch merkwürdigere Entwicklung beobachten. Obwohl bestimmte andere Rechtswissenschaftler den Positivismus zurückwiesen, akzeptierten sie diese Charakterisierung des Problems und versuchten zu zeigen, daß eine philosophische Analyse des doktrinären Begriffs des Rechts anders, als der Positivismus annimmt, belegt, daß die Moral sehr wohl eine Rolle im rechtlichen Denken spielt.
Wir haben den dieser geteilten Annahme zugrunde liegenden Fehlschluß bereits im achten Kapitel identifiziert. Das der Zwei-Systeme-Sichtweise inhärente Problem der Zirkulari
683 tät ließe sich nur durch eine Analyse des Begriffs des Rechts lösen,
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