Gerechtigkeit fuer Igel
klassische Sichtweise
Über das Recht habe ich mehr als über andere Teile der politischen Moral geschrieben. Es geht mir in diesem Kapitel nicht darum, meine Überlegungen zur Rechtswissenschaft detailliert auszubreiten, sondern ich möchte zeigen, welcher Ort ihnen in dem integrierten Wertesystem zukommt, das ich in diesem Buch auszuarbeiten versuche.
1 Aus diesem Grund kann ich mich – einigermaßen – kurz fassen. Ich konzentriere mich dabei auf das ohne Zweifel heißeste Eisen, an dem sich Juristen in den letzten Jahrhunderten die Finger verbrannt haben: In welcher Beziehung stehen Recht und Moral zueinander? Zunächst werde ich skizzieren, wie dieses Problem traditionell von so gut wie allen Rechtsphilosophen verstanden wurde – und ursprünglich auch von mir –, um dann für eine radikale Wende zu plädieren.
Die klassische Vorstellung läßt sich folgendermaßen charakterisieren. »Recht« und »Moral« bezeichnen zwei Klassen von Normen, die sich auf tiefgreifende und wichtige Weise voneinander unterscheiden. Das Recht ist Teil einer bestimmten Gemeinschaft, die Moral hingegen besteht aus einer Reihe von Regeln oder Normen, die für alle verbindlich sind. Recht wird zumindest größtenteils durch bestimmte kontingente Entscheidungen und Praktiken der Menschen geschaffen. So ist es etwa eine kontingente Tatsache, daß das Recht im US -amerikanischen Bundesstaat Rhode Island denjenigen, der fahrlässig handelt und einer anderen Person einen Schaden zu
677 fügt, dazu verpflichtet, dieser Person eine Entschädigung zu zahlen. Die Moral wird von niemandem geschaffen (außer manchen Sichtweisen zufolge von einem Gott) – sie ist kein kontingentes Ergebnis einer menschlichen Entscheidung oder Praxis. Daß Menschen, die fahrlässig handeln und anderen einen Schaden zufügen, moralisch dazu verpflichtet sind, den Leidtragenden eine Entschädigung zu zahlen, wenn ihnen das möglich ist, ist eine notwendige und keine kontingente Tatsache.
Damit habe ich die Moral so beschrieben, wie die meisten Menschen sie verstehen: im Einklang mit dem, was ich im zweiten Kapitel als die »gewöhnliche« Sichtweise bezeichnet habe. Manche Philosophen lehnen diese Charakterisierung ab, etwa Konventionalisten, Relativisten oder Vertreter einer anderen Form von Skeptizismus. Ihnen zufolge ähnelt die Moral in all den von mir genannten Hinsichten eher dem Recht: Sie ist Teil einer Gemeinschaft, wird von Menschen geschaffen und ist kontingent. Während ich im ersten Teil genauer darauf eingegangen bin, warum ich diese Sichtweise für unbegründet halte, geht es mir nun nur darum, die Moral so zu charakterisieren, wie Sie und ich sie verstehen. Aber auch Relativisten und Konventionalisten können die Beziehung zwischen Recht und Moral über die erwähnte klassische Vorstellung erklären, denn auch sie sind der Ansicht, daß es sich um unterschiedliche Normensysteme handelt, deren Verhältnis zueinander ein Problem darstellt, auch wenn sie sowohl das Recht als auch die Moral für von Menschen geschaffen halten.
Die traditionelle Frage der Rechtswissenschaft lautet: In welcher Beziehung oder welchem Verhältnis stehen diese beiden Klassen von Normen zu einander? Eine Art von Verbindung ist offensichtlich: Wenn eine Gemeinschaft darüber entscheidet, welche rechtlichen Normen sie schaffen sollte, dann sollte sie sich dabei an der Moral orientieren und sich durch diese einschränken lassen. Außer in sehr außergewöhnlichen Notsituationen sollte sie keine Gesetze erlassen, die sie für un
678 gerecht hält. Bei der genannten Frage geht es aber um eine andere Art von Verbindung. Wie wirkt sich im Hier und Jetzt der Inhalt des einen Systems auf den Inhalt des anderen aus? Wir sehen uns im Hinblick auf beide Richtungen bestimmten Fragen gegenüber. Inwiefern hängen unsere moralischen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten davon ab, wie das Recht tatsächlich beschaffen ist? Haben wir eine moralische Verpflichtung, dem Gesetz – was auch immer es verlangt – zu gehorchen? Inwiefern hängen unsere juridischen Rechte und Pflichten unter den gegebenen Umständen von den Forderungen der Moral ab? Kann eine unmoralische Norm wirklich Teil des Rechts sein?
Die erste Gruppe dieser Fragen haben wir im 14. Kapitel behandelt, und nun werden wir uns auf die zweite Gruppe konzentrieren. Inwiefern ist die Moral für die Bestimmung dessen, was vom Recht in einer bestimmten Frage gefordert wird, von Relevanz? Juristen haben in diesem
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