Gerechtigkeit fuer Igel
Regierung ist letztlich notwendig, da es nicht vermieden werden kann, Macht zeitlich begrenzt in wenigen Händen zu konzentrieren, wenn eine große politische Gemeinschaft überleben und gedei
674 hen soll. Gleiches läßt sich nicht über die judicial review sagen. Viele große Staaten haben auch ohne sie überlebt und sind gediehen, und das ist zum Teil auch heute noch der Fall. Wir müssen sie als demokratische Institution also auf andere Weise rechtfertigen und argumentieren, daß sie alles in allem die Legitimität des Systems vergrößert, indem sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß die Gemeinschaft sich sowohl auf eine angemessene Konzeption der negativen Freiheit sowie eine faire Verteilung der Ressourcen und Möglichkeiten als auch auf eine Konzeption der positiven Freiheit (wie ich sie in diesem Kapitel behandle) einigt und diese dann auch durchsetzt.
Ob dieses Argument im Fall einer politischen Gemeinschaft überzeugend ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die sich von Fall zu Fall unterscheiden. Zu diesen gehört die Stärke des Rechtsstaates, die Unabhängigkeit der Judikative und der Charakter der Verfassung, die die Richter durchsetzen sollen. Die judicial review kann sich in Staaten, in denen stabile Mehrheiten traditionell gut darin sind, die Legitimität ihrer Regierung zu schützen, indem sie die Rechte von Individuen und Minderheiten auf die richtige Weise identifizieren und achten, als weniger nötig erweisen. Leider finden sich in der Geschichte selbst unter den reifen Demokratien jedoch kaum derartige Beispiele. Die jüngsten Reaktionen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs auf terroristische Bedrohungen veranschaulichen, was passiert, wenn zwei Staaten mit durchaus unterschiedlichen politischen Kulturen die Nerven und ihre Ehre verlieren.
Es läßt sich vorab nicht eindeutig sagen, ob die judicial review eine nach dem Mehrheitsprinzip organisierte politische Gemeinschaft entweder mehr oder weniger legitim oder demokratisch machen wird. Es ist durchaus denkbar, daß andere Strategien der Überwachung und Korrektur majoritärer Politik sich als überlegen herausstellen könnten. Vielleicht wird etwa das britische Oberhaus so reformiert, daß gewählte Repräsentanten (ohne komische Titel und Kleidung) für eine einzige
675 etwas längere Periode gewählt und ehemalige Mitglieder des Unterhauses von der Wahl ausgeschlossen werden. Eine solche Institution würde sich sehr viel größerer öffentlicher Unterstützung erfreuen als das gegenwärtige Oberhaus und noch immer in hinreichendem Maße von der Parteipolitik abgeschottet sein, um mit der Macht betraut zu werden, jene Gesetze für ungültig zu erklären, die sie für unvereinbar mit dem britischen Human Rights Act hält. Es lassen sich auch viel weniger radikale Veränderungen denken, welche die Leistungsfähigkeit der Institutionen und Gerichte der existierenden Verfassungsordnung verbessern könnten. An anderer Stelle habe ich etwa vorgeschlagen, der Amtszeit US -amerikanischer Verfassungsrichter (recht großzügig bemessene) Grenzen aufzuerlegen.
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Die umfassende Frage, ob die judicial review die Legitimität einer politischen Ordnung in Zukunft wahrscheinlich vergrößern wird, läßt sich nicht mit einem Blick in die Geschichte beantworten, die aber dennoch nicht ohne Bedeutung ist. Ich würde daher die Behauptung vieler Juristen und Politikwissenschaftler zurückweisen, daß sie unweigerlich und automatisch ein Demokratiedefizit darstellt. Das muß aber nicht heißen, daß jede Demokratie tatsächlich von der Einführung dieser Institution profitiert hat. Ob der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die US -amerikanische Demokratie tatsächlich verbessert hat, hängt von einer Beurteilung ab, in der Sie und ich uns durchaus uneins sein können. Mir wurde jahrelang vorgeworfen, meine Verteidigung der judicial review hänge damit zusammen, daß ich die tatsächlichen Entscheidungen des Gerichtshofs für richtig halte. Dieser Vorwurf läßt sich nicht länger gegen mich erheben. Wenn ich den Obersten Gerichtshof allein aufgrund seiner Urteile aus den letzten Jahren bewerten müßte, würde ich ihn für einen Fehlschlag halten.
20 Meines Erachtens fällt die Bewertung seiner historischen Rolle alles in allem aber noch immer positiv aus. Nun hängt alles von den zukünftigen Kandidaten für die Posten der Verfassungsrichter ab. Drücken wir uns die Daumen.
676 Kapitel 19
Recht
Recht und Moral
Die
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