Gerechtigkeit fuer Igel
Kontext eine ganze Reihe von Theorien vertreten, von denen ich hier jedoch nur zwei diskutieren werde: den sogenannten Rechtspositivismus und die Position, die ich Interpretivismus nenne. Die Terminologie ist hier nicht wirklich wichtig, weil die folgende Argumentation – daß ein traditionelles Verständnis dieser Theorien in die Irre führt – nicht davon abhängt, ob ich sie historisch richtig kategorisiert habe.
Beginnen wir mit einer sehr allgemeinen Charakterisierung beider Theorien. Dem Positivismus zufolge sind beide Systeme vollkommen unabhängig voneinander. Das Recht hängt allein von historischen Tatsachen ab, also letztlich davon, was die betreffende Gemeinschaft in ihren Gewohnheiten und Praktiken als Recht anerkennt.
2 Wenn ein ungerechtes Gesetz den von der Gemeinschaften akzeptierten Standard für Recht erfüllt – wenn es etwa von einem Parlament verabschiedet wird, das allen Richtern zufolge die höchste Instanz der Gesetzgebung ist –, dann handelt es sich bei diesem ungerechten Gesetz wirklich um Recht. Hingegen weist der Interpretivismus
679 die These zurück, daß es sich bei Recht und Moral um zwei voneinander vollkommen unabhängige Systeme handelt. Diesem Ansatz zufolge gehören zum Recht nicht nur bestimmte Regeln, die im Einklang mit den akzeptierten Praktiken einer Gemeinschaft erlassen werden, sondern zudem auch Prinzipien, welche die beste moralische Rechtfertigung dieser Regeln darstellen. Dementsprechend sind Regeln, die aus diesen rechtfertigenden Prinzipien folgen, auch wenn sie nie formell verabschiedet wurden, Teil des Rechts. Der Interpretivismus versteht das rechtliche Denken also so, wie wir dem Argument dieses Buches gemäß alles interpretative Denken verstehen sollen. Er behandelt den Begriff des Rechts als interpretativen Begriff.
Tatsächlich gibt es jedoch unterschiedliche Begriffe des Rechts, und es ist an dieser Stelle nötig, kurz auf diese Unterschiede einzugehen.
3 Wir verwenden den Begriff »Recht« in seiner soziologischen Bedeutung, wenn wir sagen, daß die Ursprünge des Rechts in primitiven Gesellschaften zu finden sind; wenn wir die Rechtsstaatlichkeit zelebrieren, verwenden wir den Begriff in einem normativen Sinn, um etwas Erstrebenswertes zu bezeichnen; und wenn wir erläutern, was das Recht zu einer bestimmten Frage sagt oder warum Betrug im US -amerikanischen Bundesstaat Connecticut ein zivilrechtliches Delikt darstellt, benutzen wir den Begriff in einem doktrinären Sinn, also im Sinn der Rechtslehre. Sowohl der Positivismus als auch der Interpretivismus sind Theorien über den richtigen Gebrauch des doktrinären Rechtsbegriffs. Der Positivismus hat diesen Begriff traditionell als kriteriumsabhängig behandelt und nach Herkunftstests gesucht, die Juristen oder zumindest juristische Beamten anwenden, um die wahren Lehrsätze des Rechts im doktrinären Sinn zu identifizieren. Der Interpretivismus behandelt den Begriff hingegen als interpretativ und die Behauptungen von Juristen über die Ansichten oder Forderungen des Rechts in einer bestimmten Frage als Schlußfolgerungen eines interpretativen Arguments,
680 auch wenn ein Großteil der Interpretationsarbeit fast immer im verborgenen stattfindet.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen autobiographischen Abstecher. Als ich vor mehr als vierzig Jahren einen ersten Versuch unternahm, den Interpretivismus zu verteidigen, bewegte ich mich dabei noch im Rahmen dieser klassischen Zwei-Systeme-Sichtweise.
4 Ich ging davon aus, daß es sich bei Recht und Moral um zwei voneinander verschiedene Normensysteme handelt und daß die entscheidende Frage deren Verhältnis betrifft. Daher habe ich damals die eben skizzierte Position vertreten: daß das Recht nicht allein erlassene Regeln oder Regeln mit einer bestimmten Herkunft umfaßt, sondern auch rechtfertigende Prinzipien. Schon bald ist mir jedoch klargeworden, daß die Zwei-Systeme-Sichtweise selbst Teil des Problems ist, und ich begann eine völlig andere Auffassung zu entwickeln.
5 Aber erst als ich mich den umfassenderen Fragen des vorliegenden Buches zugewendet habe, habe ich begriffen, wie diese alternative Sichtweise zu verstehen ist und wie sehr sie sich von der konventionellen Vorstellung unterscheidet.
Der entscheidende Fehler
In der klassischen Zwei-Systeme-Sichtweise gibt es einen entscheidenden Fehler. Verstehen wir Recht und Moral erst einmal als voneinander getrennte Normensysteme, dann gibt es keinen neutralen Standpunkt, von
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