Gerechtigkeit fuer Igel
längst vergangener Tage, war der Meinung, daß gute Kritik Ehrlichkeit und ein Streben nach Wahrheit erfordert: »Zu einem echten kritischen Urteil gehört das Streben, über das rein Persönliche hinauszugehen […]. Mit einem kritischen Urteil wird im Grunde behauptet, ›So verhält es sich doch, nicht wahr?‹.«
4 Einen ähnlichen Gedanken
217 brachte der wahrscheinlich gleichermaßen anerkannte Literaturkritiker Cleanth Brooks zum Ausdruck: »Ich denke, daß wir als Kritiker gar nicht oft genug an die Lücke zwischen unserer und der ›wahren‹ Interpretation eines Gedichts erinnert werden können. […] Die Alternativen sind unerquicklich: Entweder sagen wir, daß keine Lesart besser ist als eine andere, [. . .] oder wir beschränken uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner all der verschiedenen vorliegenden Interpretationen.«
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Dennoch wollen wir oft nicht einfach ohne Wenn und Aber behaupten, daß unsere interpretativen Urteile wahr sind, ebenso wie es manchen Menschen unangenehm ist, einfachhin moralische Wahrheit zu beanspruchen. Viele Juristen, die entsetzt wären, Formulierungen wie die von mir eben vorgestellte in einer Urteilsverkündung zu sehen, haben nichtsdestotrotz ein Problem mit der rechtsphilosophischen Position, daß es stets die eine beste Interpretation jeder Rechtsvorschrift und jedes Präzedenzfalls gibt und daß alle anderen Auslegungen falsch sind. Sie ziehen Formulierungen vor, die diese harte These vermeiden. Manche Rechtswissenschaftler würden zum Beispiel sagen, eine bestimmte Lesart des Grundsatzes des gleichen Rechtsschutzes sei ihres Erachtens die beste, es sei ihnen aber bewußt, daß diese Einschätzung kontrovers ist, und sie würden nicht so weit gehen wollen zu behaupten, daß eine Interpretation die einzig richtige sei und alle, die anderer Meinung sind, sich irrten.
6 Diese bizarre Aussage ist vollkommen absurd, denn wenn man eine bestimmte Interpretation für die beste hält, muß man konkurrierende Lesarten als weniger gut einschätzen. Wenn man einräumt, daß das vielleicht nicht auf alle anderen Interpretationen zutrifft, widerspricht das der anfänglichen Behauptung. Die Beliebtheit inkohärenter Äußerungen dieser Art unterstreicht, wie unsicher viele Menschen sich hinsichtlich der Frage sind, ob es in Interpretationen um die Wahrheit geht.
Natürlich ist es immer verlockend, einfach einen externen Skeptizismus zu vertreten. Eine sehr populäre Position in der
218 Literaturwissenschaft besagt, daß es nicht die eine richtige Lesart eines Gedichts oder eines Theaterstücks geben kann, sondern immer nur unterschiedliche Versionen, die bestimmten Menschen einfach zufällig mehr oder weniger zusagen. Viele glauben, diese skeptische Haltung damit begründen zu können, daß bedeutende Literaturkritiker oft unterschiedlicher Meinung sind. Ein externer Skeptizismus ist aber im Bereich der Kunst ebenso unplausibel wie im Fall des Rechts und der Moral. Sobald wir sorgfältig die Ungewißheit von der Unbestimmtheit unterschieden haben, erweist sich die skeptische Behauptung, daß es nicht die eine richtige Weise gibt, ein Gedicht oder ein Gesetz auszulegen, selbst als interpretatives Urteil. Der globale Skeptizismus hinsichtlich interpretativer Aussagen kann nur intern sein – und das bedeutet, daß es sich dabei um eine außerordentlich anspruchsvolle Behauptung handelt, die nur über eine gewagte und ambitionierte Theorie gerechtfertigt werden kann. Diese Ambivalenz, die im Bereich der Interpretation und jenem der moralischen Überzeugung eine auffällige Parallele darstellt, bestärkt mich in der These, die ich im sechsten Kapitel vertreten habe: Moralische Begründungen sind interpretativ. Außerdem sehen wir uns nun mit einem Problem konfrontiert, auf das ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher eingehen werde. Es muß gezeigt werden, daß die von mir im sechsten Kapitel vorgeschlagene Auffassung von Wahrheit und Verantwortung nicht nur zu moralischen Begründungen paßt, sondern allgemein zur Interpretation, und daß sie zudem jene Ambivalenz erklären kann, die im engeren wie im weiteren Bereich zu beobachten ist. Außerdem muß ich noch auf die restlichen der anfangs angesprochenen Fragen und Probleme eingehen.
Zumindest wenn sie sich in einer bestimmten Stimmung befinden, gehen die meisten Interpreten davon aus, daß ihre interpretativen Urteile richtig oder falsch sein können. Aber worin besteht die Wahrheit, die hier angestrebt wird?
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