Gerechtigkeit fuer Igel
die Wand geworfen wurden, um einem Kind im Rahmen eines Zeichenunterrichts als Vorlage zu dienen, oder irgendeine andere Entstehungsweise und einen anderen Zweck stipulieren. Erst dann können Sie mit der Konstruktion einer Interpretation beginnen. Sie müssen sich also für ein bestimmtes Genre der Interpretation entscheiden, bevor Sie überhaupt damit beginnen können. Vielleicht verleitet Sie diese Überlegung zu dem Gedanken, daß die verschiedenen Genres anscheinend nicht viel gemeinsam haben, aber lassen Sie mich auf einen entscheidenden Umstand hinweisen, der dafür spricht, daß das Gegenteil der Fall ist: Wir formulieren ungeachtet des konkreten Genres die Ergebnisse unserer Interpretationen mit großer Selbstverständlichkeit im Vokabular von Absichten und Zwecken. Wir sprechen von der Bedeutung oder der Signifikanz einer Passage aus
215 einem Gedicht oder einem Theaterstück, vom Sinn eines bestimmten Gesetzes, von in einem bestimmten Traum zum Ausdruck gebrachten Motiven und davon, daß ein Ereignis oder Zeitalter von bestimmten Ambitionen oder Sichtweisen mitgeprägt wird.
Ambivalenz
Wie ich im ersten Teil dieses Buches mehrfach betont habe, stehen wir unseren moralischen und anderen Werturteilen typischerweise mit einer gewissen Ambivalenz gegenüber. Wir sind einerseits geneigt, unsere moralischen Überzeugungen für wahr zu halten, viele von uns können sich aber zugleich des entgegengesetzten Gedankens nicht erwehren, daß diese Überzeugungen im Grunde überhaupt nicht wahr sein können. Diese Ambivalenz läßt sich bei allen Formen der Interpretation beobachten. Wenn wir etwas deuten, scheinen wir normalerweise davon auszugehen, daß die bewußte Deutung entweder stichhaltig ist oder nicht, zutreffend oder unzutreffend, wahr oder falsch. Aus diesem Grund könnte ich Ihnen vorwerfen, meine Äußerungen, Yeats' Gedichte, die Renaissance oder den britischen Sale of Goods Act falsch zu interpretieren. Wir gehen davon aus, daß es eine richtige Weise gibt, diese Interpretationsgegenstände zu verstehen, die man treffen oder verfehlen kann. Man kann eine Interpretation aber auch aus anderen Gründen loben. Ein Musikliebhaber kann Glenn Goulds Interpretation einer Sonate von Beethoven sehr genießen und trotzdem der Meinung sein, daß sie als Lesart jener Sonate eine Travestie ist. Als US -amerikanischer Jurist könnte man durchaus den Wunsch haben, den in der Verfassung verankerten gleichen Rechtsschutz so auszulegen, daß die Bundesstaaten ebensoviel dafür ausgeben müssen, Schüler in armen Bezirken zu unterrichten wie in reichen, zugleich aber eine solche Interpretation für juristisch falsch halten.
3
216 In bestimmten Zusammenhängen käme es uns seltsam oder ungewöhnlich vor, wenn jemand seine Auslegung zur einzig wahren erklären würde. Regisseure oder Schauspieler müssen (und sollten) nicht darauf bestehen, daß ihre neue Interpretation von Hamlet die einzig richtige ist und daß alle anderen Herangehensweisen falsch sind. (Wie ich später näher ausführen werde, ist der Gedanke, daß es nicht die eine beste Weise gibt, Hamlet aufzuführen, ein Beispiel für einen erfolgreichen internen Skeptizismus im Hinblick auf Klassikeraufführungen.) Wenn aber ein Literaturkritiker, dessen Lebenswerk der Interpretation dieses Stücks gewidmet ist, im Nachwort seines großen Buches schreiben würde, die vorgeschlagene Analyse sei nur ein Ansatz von vielen gleichermaßen interessanten und legitimen, fänden wir das seltsam. Und in bestimmten Zusammenhängen fänden wir einen entsprechenden Skeptizismus nicht nur merkwürdig, sondern empörend. Stellen Sie sich etwa vor, ein Richter würde eine Gefängnis- oder sogar die Todesstrafe verhängen oder im Rahmen eines Zivilprozesses den Beklagten zu einer hohen Entschädigungszahlung verurteilen, nur um in seiner Urteilsverkündung zuzugeben, daß eine andere Auslegung der einschlägigen Gesetze, die nicht zu diesem Ergebnis geführt hätte, gleichermaßen richtig gewesen wäre; oder daß Ihr Freund darauf besteht, daß Sie ein Versprechen halten, obwohl Ihnen daraus erhebliche Nachteile entstehen, zugleich aber zugibt, daß die entsprechende Äußerung von Ihnen genausogut nicht als ein Versprechen gedeutet werden könnte.
Zur Phänomenologie des Interpretierens – zu dem, wie der jeweilige Interpret seine Aktivität erlebt – gehört also meistens der Eindruck, daß es dabei um Wahrheit geht. F. R. Leavis, ein bedeutender Literaturkritiker
Weitere Kostenlose Bücher