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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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ganz unterschiedlicher Genres von manchen als ausgesprochen plausibel empfunden wird: die Theorie mentaler Zustände. Diesem Ansatz zufolge sind interpretative Aussagen gegebenenfalls aufgrund tatsächlicher oder kontrafaktischer mentaler Zustände eines bestimmten Individuums oder einer ganzen Gruppe wahr. Wenn es also stimmt, daß Jessica es haßt, jüdisch zu sein, liegt das an bestimmten Gedanken oder Absichten, die Shakespeare hatte, als er jenes Stück schrieb, und wenn Quotenregelungen für ethnische Minderheiten tatsächlich im Widerspruch zum in der US -amerikanischen Verfassung verankerten gleichen Rechtsschutz stehen, dann nur weil die Verfasser jenes Grundsatzes im 19. Jahrhundert, oder die Bürger, in deren Namen sie handelten, damit ebendieses Ergebnis erzielen wollten. Ob es wahr ist, daß die Amerikanische Revolution letztendlich von kommerziellen Erwägungen und nicht vom Ideal der Freiheit bestimmt wurde, hängt dieser Sichtweise zufolge davon ab, was viele der an ihr beteiligten Menschen währenddessen im Sinn hatten.
    Die Wahrheit einer interpretativen Aussage kann diesem Ansatz zufolge durchaus von ausgesprochen komplexen mentalen Zuständen abhängen, die dem betreffenden Individuum unter Umständen selbst nicht vollkommen transparent sind. Vielleicht war sich Shakespeare der Absichten, von deren Vorhandensein die Wahrheit jenes Urteils abhängt, überhaupt nicht bewußt. Vielleicht ist den Abgeordneten, die jenen vierzehnten Verfassungszusatz verabschiedeten, die Möglichkeit von Quotenregelungen nie in den Sinn gekommen; wichtig ist nur, ob sie gewollt hätten, daß ihr Grundsatz ein Verbot derselben zur Folge hat, wenn sie sich explizit mit dieser Frage beschäftigt hätten. Vielleicht beziehen wir uns mit der Behauptung, daß aufgrund der Gedanken bestimmter Individuen wirtschaftliche
222 Interessen letztendlich den Verlauf einer großen Revolution bestimmt haben, auf Hunderte ganz unterschiedlicher Überlegungen Tausender Individuen, die sich dieser geistigen Verbindung keineswegs bewußt waren. Wichtig ist nur, daß diesem Ansatz zufolge interpretative Behauptungen letztlich nur aufgrund des Vorhandenseins bestimmter mentaler Zustände wahr sind.
    Warum dieser Ansatz so verbreitet ist, ist nicht schwer zu verstehen. Er macht die Wahrheit interpretativer Behauptungen von einer ganz gewöhnlichen empirischen Tatsache abhängig, und wenn das gelingt, wäre die Idee interpretativer Wahrheit nicht länger rätselhaft. Zu sagen, daß der Verfasser bestimmter Theaterstücke gewisse Absichten hatte, scheint uns nicht weiter bemerkenswert, denn das trifft schließlich auf alle Menschen zu. Außerdem wird so verständlich, warum wir im Rahmen all dieser Genres mit großer Selbstverständlichkeit darüber sprechen, welchen Zweck etwas hat oder was es bedeutet: Damit ist einfach das gemeint, worum es den Individuen ging, deren mentale Zustände die jeweilige Interpretation wahr machen.
    Sobald wir aber versuchen, diese Annahme zu einer allgemeinen Theorie der Interpretation, die für alle Genres geeignet ist, auszubauen, wird deutlich, daß dieser Ansatz große Schwächen hat. Interpretationen in Gesprächen können zwar normalerweise durchaus auf diese Weise beschrieben werden, weil es im Grunde davon abhängt, was Ihr Gegenüber Ihnen tatsächlich mitteilen wollte, ob Sie mit Ihrer Deutung seiner Äußerungen recht haben, aber bei bestimmten anderen Genres scheint diese Herangehensweise entweder unmöglich oder umstritten und nicht besonders überzeugend zu sein. Zu sagen, die Wahrheit der historischen Interpretation, daß die Amerikanische Revolution von wirtschaftlichen Interessen oder politischen Idealen bestimmt wurde, hänge davon ab, was bestimmte entscheidende Akteure oder die relevanten Bevölkerungsschichten tatsächlich zu diesem Zeitpunkt dachten, scheint recht albern. Ebenso absurd erscheint differenziert denkenden Juristen
223 heute die Idee, daß es von den mentalen Zuständen der jeweiligen Gesetzgeber abhängen soll, welche Interpretation eines bestimmten Gesetzes richtig ist.
 7 Wenn sie erklären, wie bestimmte Passagen ihres Erachtens gelesen werden sollten, sprechen sie zwar oft von der »gesetzgeberischen Absicht«, aber damit können unmöglich die tatsächlichen Gedanken der betreffenden Gesetzgeber gemeint sein. Viele Abgeordnete verstehen die von ihnen verabschiedeten Gesetze nicht wirklich, und das Stimmverhalten der übrigen ist sicher mindestens so häufig von dem

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