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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Und wie kann daraus, daß eine bestimmte Deutung wahr ist, folgen, daß alle
219 anderen falsch sein müssen und nicht einfach etwas anderes beschreiben? In vielen Genres ist man sich nicht nur hinsichtlich der Resultate, sondern sogar im Hinblick auf die einzusetzenden Methoden erstaunlich uneins. Im Bereich der Literaturkritik kommen fast täglich neue Schulen auf, deren Anhänger behaupten, eine vollkommen andere und viel bessere Weise entdeckt zu haben, Spencer oder Jack Kerouac zu lesen. Hier finden sich psychodynamische, textimmanente, rezeptionsästhetische, marxistische, feministische und auf der Idee kultureller Mythen beruhende Interpretationen. Wie sollen wir mit diesen Lesarten umgehen? In der Literaturkritik konkurriert man nicht nur um akademische Karrieren oder Einfluß, sondern auch darum, wessen Interpretation richtig ist. Aber vielleicht würden Sie lieber davon ausgehen, daß jede dieser Schulen einer anderen Fragestellung nachgeht, so daß sie ebensowenig im Wettkampf miteinander stehen wie zum Beispiel ein Arzt und ein Finanzberater. Zwei theoretische Ansätze können sich schließlich nur widersprechen, wenn sie versuchen, dieselbe Frage zu beantworten, und obwohl die betreffenden Akademiker durchaus der Meinung zu sein scheinen, daß sie sich gegen die Vertreter anderer Ansätze wenden müssen, und zwar zuweilen überaus vehement, sind die Fragen, mit denen sie sich tatsächlich jeweils befassen, sehr unterschiedlich.
    Hinzu kommt ein weiterer rätselhafter Aspekt der Phänomenologie von Interpretationen: Oft beeindruckt uns eine bestimmte Lesart eines Gedichts zutiefst – sie fühlt sich, anders gesagt, richtig an –, ohne daß wir diese Einschätzung gegenüber Menschen, die anderer Meinung sind, argumentativ rechtfertigen könnten. Uns bleibt nur, auf eine Passage des Texts zu zeigen und auf eine Bekehrung zu hoffen. Für manche Genres der Interpretation ist es charakteristisch, daß wir unser Verständnis des Gegenstands nicht wirklich ausdrücken können. So halten wir zum Beispiel oft eine bestimmte Aufführung einer Sonate oder eines Theaterstücks für richtig und glauben, daß sie etwas zum Ausdruck bringt, das tatsächlich im Werk enthal
220 ten ist, ohne wirklich ausführen zu können, warum dem so ist. In bestimmten Genres kommt es uns unter Umständen sogar so vor, als ob eine sehr gewissenhafte und bemühte Rechtfertigung unserer Einsicht diese geradezu ruinieren würde. In allen Einzelheiten erklären zu müssen, warum die von ihnen bevorzugte Interpretation tatsächlich die richtige ist, empfinden manche Musiker als geradezu fatal. Vielleicht stimmt es, daß man die Musik manchmal für sich sprechen lassen muß, was immer mit dieser beliebten Formulierung genau gemeint ist. In Fällen dieser Art fallen wir gern auf problematische Metaphern und Personifikationen dieser Art zurück, etwa wenn wir sagen, daß die richtige Interpretation heraussticht, daß wir von der Musik selbst angeleitet werden oder gern auch, daß ein ideenreicher und einfühlsamer Interpret die Bedeutung oder die Aussage eines Kunstwerks einfach »sieht«.
    Phänomenologisch behält die Interpretation aber allem Herumdrucksen und allen undurchsichtigen Ausdrucksweisen zum Trotz ihren wahrheitsuchenden und argumentbasierten Charakter. Wenn wir diesen ihr eigenen Wahrheitsanspruch aufgeben und tatsächlich anstelle von echten Konflikten einfach nur verschiedene Möglichkeiten annehmen würden, hätten wir es mit einer sehr anderen geistigen Tätigkeit zu tun. Aus diesem Grund ist es ein Problem, daß Interpretationen oft nicht wirklich ausgedrückt werden können, weil sich das nur schwer mit einem Wahrheitsanspruch vereinbaren läßt. Wenn wir mit unserem Eindruck, daß eine bestimmte Lesart von Yeats' Gedichten oder des Grundsatzes gleichen Rechtsschutzes tatsächlich zutreffender ist als alle anderen, recht haben, müßten wir eigentlich erklären können, warum dem so ist, da interpretative Urteile ebensowenig wie moralische schlicht wahr sein können. Daß Shakespeares Jessica ihren Vater Shylock verrät, weil sie sich schämt, jüdisch zu sein, kann nicht einfach unabhängig von jeder Begründung wahr sein. Wenn dem wirklich so ist, muß genauer ausgeführt werden können, warum dem so ist. Was da draußen macht diese Aussage wahr?
    221 Mentale Zustände
    Wir können der schwierigen Frage, was Interpretationen wahr macht, nicht aus dem Weg gehen, und es gibt eine Antwort, die im Hinblick auf eine Reihe

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