Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
Vom Netzwerk:
Schluss kommen, dass gemäß Kants Moraltheorie wahre, aber irreführende Aussagen – gegenüber einem Mörder an der Tür, den preußischen Zensoren oder dem republikanischen Sonderermittler – moralisch zulässig sind, glatte Lügen jedoch nicht.
    Man könnte meinen, ich hätte etwas zu viel Mühe darauf verwendet, Kant aus einer wenig überzeugenden Position herauszuhauen. Seine Behauptung, es sei falsch, den Mörder an der Tür zu belügen, könnte letztlich nicht zu halten sein. Doch die Unterscheidung zwischen einer glatten Lüge und einer irreführenden Wahrheit trägt dazu bei, Kants Moraltheorie anschaulich zu machen. Und sie bringt eine überraschende Ähnlichkeit zwischen Bill Clinton und dem nüchternen Moralisten aus Königsberg an den Tag.
    Kant und Gerechtigkeit
    Anders als Aristoteles, Bentham und Mill verfasste Kant kein wichtiges Werk über politische Theorie, sondern nur ein paar Aufsätze. Dennoch enthält die Erklärung von Moralität und Freiheit, die aus seinen ethischen Schriften hervorgeht, starke Implikationen für eine Theorie der Gerechtigkeit. Obwohl Kant diese Implikationen nicht im Detail ausarbeitet, verwirft die von ihm bevorzugte politische Theorie den Utilitarismus zugunsten einer Theorie der Gerechtigkeit, die auf einem Gesellschaftsvertrag beruht.
    Zunächst weist Kant den Utilitarismus zurück – nicht nur als Grundlage der persönlichen Moral, sondern auch als Basis für die Gesetzgebung. Aus seiner Sicht zielt eine gerechte Verfassung darauf ab, die individuelle Freiheit jedes Einzelnen mit der aller anderen in Einklang zu bringen. Das hat nichts mit der Maximierung des Nutzens zu tun, der sich in die Bestimmung der grundlegenden »Gesetze schlechterdings nicht (…) mischen muss«. Da »die Menschen (…) in Ansehung auf den empirischen Zweck (dergleichen alle unter dem allgemeinen Namen Glückseligkeit begriffen worden) (…) gar verschieden denken«, kann der Nutzen nicht die Grundlage der Gerechtigkeit und des Rechtes bilden. Eine Gesellschaft, in der die Rechte auf dem Nutzen beruhten, wäre aufgefordert, eine bestimmte Vorstellung von Glückseligkeit über andere entsprechende Vorstellungen zu stellen. Würde man die Verfassung auf eine spezielle Vorstellung vom Glück (etwa die vom Glück der Mehrheit) gründen, so würden manchen die Werte anderer aufgezwungen; damit wäre das Recht jedes Einzelnen, die eigenen Zwecke zu verfolgen, nicht respektiert. »Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein«, schreibt Kant, »sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, (…) nicht Abbruch tut.« 45
    Ein zweites Merkmal von Kants politischer Theorie besteht darin, dass sie Gerechtigkeit und Rechte aus einem Gesellschaftsvertrag ableitet – allerdings einem Gesellschaftsvertrag mit einer überraschenden Pointe. Frühere Vertragsdenker wie etwa John Locke meinten, eine legitime Herrschaft gehe aus einem Gesellschaftsvertrag unter Männern und Frauen hervor, die sich zu irgendeiner Zeit miteinander über die Grundsätze ihres gemeinschaftlichen Lebens geeinigt hätten. Kant sieht das anders: Auch wenn eine legitime Herrschaft auf einem ursprünglichen Vertrag beruhen muss, ist »dieser Vertrag (…) keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen«. 46 Kant besteht darauf, dass der ursprüngliche Kontrakt nicht wirklich, sondern nur in der Vorstellung existiert.
    Aber warum sollte man eine gerechte Verfassung überhaupt aus einem imaginären anstatt aus einem realen Vertrag ableiten? Ein Grund ist historischer Natur: Oft ist in der frühen Geschichte der Nationen schwer nachzuweisen, dass es je zu einem Gesellschaftsvertrag gekommen ist. Ein zweiter Grund ist philosophisch: Moralische Grundsätze sind nicht aus empirischen Fakten allein abzuleiten. So, wie das Moralgesetz nicht auf den Interessen oder Wünschen Einzelner beruhen kann, können auch Grundsätze der Gerechtigkeit nicht auf den Interessen oder Wünschen der Gemeinschaft aufbauen. Die bloße Tatsache, dass eine Gruppe von Menschen in der Vergangenheit einer Verfassung zustimmte, macht diese noch nicht zu einer gerechten Verfassung.
    Welche Art von imaginärem Vertrag könnte dieses Problem vermeiden? Kant nennt es einfach »eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat«. Es gilt, den Gesetzgeber

Weitere Kostenlose Bücher