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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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Menschen – wählen würden, wenn wir uns in dieser Position befänden. Er geht nicht davon aus, dass wir im richtigen Leben eigenschaftslose Egoisten sind, sondern nimmt nur an, dass wir für das Gedankenexperiment unsere moralischen und religiösen Überzeugungen beiseitestellen.
    Welche Grundsätze würden wir wählen?
    Vor allem, meint Rawls, würden wir uns nicht für den Utilitarismus entscheiden. Hinter dem Schleier des Nichtwissens müssten alle befürchten, einer unterdrückten Minderheit anzugehören. Und keiner würde riskieren wollen, den Christen abzugeben, der zum Vergnügen der Massen den Löwen vorgeworfen wird. Ebenso wenig würden wir uns auf den Gedanken des Laissez-faire einlassen, jenen Grundsatz der Libertarianer, der den Menschen das Recht gibt, all das Geld zu behalten, das sie in einer Marktwirtschaft einnehmen. »Vielleicht werde ich ja ein Bill Gates«, würde jeder überlegen, »aber genauso gut könnte ich auch als Obdachloser enden. Deshalb ist es wohl besser, ein System zu meiden, in dem ich bettelarm und hilflos stranden könnte.«
    Rawls glaubt, aus dem hypothetischen Vertrag würden zwei Prinzipien der Gerechtigkeit hervorgehen. Das erste bringe gleiche Grundfreiheiten für alle Bürger – etwa Rede- und Religionsfreiheit. Dieses Prinzip habe Vorrang vor allen Erwägungen des gesellschaftlichen Nutzens und des Gemeinwohls. Der zweite Grundsatz betreffe die soziale und wirtschaftliche Gleichheit. Auch wenn er keine gleiche Verteilung von Einkommen und Wohlstand fordert, lässt Rawls doch nur jene sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zu, die sich zum Vorteil der am wenigsten begüterten Gesellschaftsmitglieder auswirken.
    Philosophen streiten darüber, ob die Unterzeichner von Rawls’ hypothetischem Gesellschaftsvertrag tatsächlich die von ihm genannten Grundsätze wählen würden. Wir werden gleich sehen, warum Rawls glaubt, dass diese beiden Prinzipien gewählt werden würden. Doch ehe wir uns ihnen zuwenden, wollen wir eine übergeordnete Frage aufgreifen: Ist Rawls’ Gedankenexperiment der richtige Ansatz, über Gerechtigkeit nachzudenken? Wie können Prinzipien der Gerechtigkeit aus einer Übereinkunft abgeleitet werden, die nie getroffen wurde?

Verträge und ihre
moralischen Grenzen
    Um die moralische Kraft von Rawls’ hypothetischem Vertrag einschätzen zu können, ist es hilfreich, die moralischen Grenzen tatsächlicher Verträge zu bestimmen. Wenn zwei Leute einen Handel abschließen, gehen wir manchmal davon aus, dass die Klauseln ihrer Vereinbarung fair sein müssen. Anders gesagt, wir unterstellen, dass Verträge die von ihnen hervorgebrachten Klauseln rechtfertigen. Doch das tun sie nicht – zumindest nicht von selbst. Konkrete Verträge sind keine eigenständigen moralischen Werkzeuge. Die bloße Tatsache, dass wir uns einig geworden sind, bedeutet nicht, dass der zwischen uns geschlossene Vertrag auch fair ist. Bei jedem Kontrakt kann man fragen: »Ist es fair, was sie vereinbart haben?« Wollen wir diese Frage beantworten, können wir nicht einfach auf die Übereinkunft selbst verweisen; wir brauchen eine Art unabhängige Norm für Fairness.
    Woher könnte eine solche Norm kommen? Vielleicht denkt der eine oder andere dabei an einen größeren, übergeordneten Vertrag – etwa eine Verfassung. Doch Verfassungen unterliegen der gleichen Beschränkung wie andere Vereinbarungen. Die Tatsache, dass eine Verfassung vom Volk ratifiziert ist, beweist nicht, dass ihre Bestimmungen gerecht sind. Nehmen wir etwa die US -Verfassung von 1787: Trotz ihrer vielen Vorzüge war sie dadurch kompromittiert, dass sie die Sklaverei akzeptierte – dieser Mangel blieb bis nach dem Ende des Bürgerkriegs bestehen. Die Tatsache, dass die Verfassung gebilligt wurde – erst durch die Delegierten in Philadelphia, dann durch die einzelnen Staaten –, führte nicht dazu, sie gerecht zu machen.
    Man könnte vorbringen, dieser Mangel lasse sich auf einen Fehler bei der Konsensfindung zurückführen. Afroamerikanische Sklaven waren im Verfassungskonvent ebenso wenig vertreten wie Frauen, die das Wahlrecht erst über ein Jahrhundert später erlangten. Es ist sicher möglich, dass eine repräsentativere Versammlung eine gerechtere Verfassung hervorgebracht hätte. Doch das ist pure Spekulation. Kein realer Gesellschaftsvertrag und keine noch so repräsentative Versammlung können gewährleisten, dass faire Bestimmungen für unser Zusammenleben getroffen werden.
    Allen, die glauben,

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