Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
dazu zu bringen, seine Gesetze so zu erlassen, dass »sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können«, und jeden einzelnen Bürger so dazu zu verpflichten, als ob er »zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe«. Kant kommt zu dem Schluss, dieser imaginäre Akt kollektiver Zustimmung sei »der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes«. 47
Immanuel Kant sagte uns nicht, wie dieser imaginäre Vertrag aussehen könnte oder welche Grundsätze der Gerechtigkeit aus ihm hervorgehen würden. John Rawls, ein politischer Philosoph aus Amerika, sollte fast zwei Jahrhunderte später versuchen, diese Frage zu beantworten.
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Plädoyer zugunsten der Gleichheit
JOHN RAWLS
Die meisten Amerikaner haben keinen Gesellschaftsvertrag unterzeichnet. Und zugestimmt, sich an die Verfassung zu halten, haben genau genommen nur die eingebürgerten Amerikaner – Einwanderer, die als Voraussetzung für ihre Staatsbürgerschaft einen Treueeid ablegen mussten. Alle anderen wurden nie um ihre Einwilligung gebeten. Warum also sind sie verpflichtet, dem Gesetz zu gehorchen? Und wie können wir erkennen, ob unser Staat und seine Regierung auf die Zustimmung der Regierten gegründet sind?
John Locke sagt, wir hätten stillschweigend zugestimmt. Jeder, der sich der Vorteile eines Staates erfreut – und sei es nur, weil er auf einer öffentlichen Straße unterwegs ist –, willigt implizit in die Gesetze ein und ist durch sie gebunden. 1 Doch stillschweigendes Einverständnis ist eine sehr schwache Form der Zustimmung. Es ist schwer nachzuvollziehen, was ein bloßer Spaziergang durch die Stadt mit der Ratifizierung einer Verfassung zu tun haben soll.
Immanuel Kant beruft sich auf eine hypothetische Zustimmung. Ein Gesetz ist demnach gerecht, wenn die Öffentlichkeit als Ganzes zugestimmt haben könnte. Doch auch das ist eine irritierende Alternative zu einem richtigen Gesellschaftsvertrag. Wie kann eine hypothetische Vereinbarung moralisch genauso bindend sein wie eine reale?
Der amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) legt eine erhellende Antwort auf diese Frage vor. In Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) schlägt er vor, über Gerechtigkeit nachzudenken, indem wir uns fragen, welchen Grundsätzen wir in einem Urzustand der Gleichheit zustimmen würden. 2
Rawls argumentiert wie folgt: Nehmen wir an, wir versammeln uns, so wie wir gerade sind, um zu beschließen, welche Grundsätze unser Gemeinschaftsleben beherrschen sollen – um einen Gesellschaftsvertrag niederzuschreiben. Welche Grundsätze würden wir beschließen? Wahrscheinlich hätten wir Probleme, uns zu einigen. Die verschiedenen Menschen würden unterschiedliche Prinzipien bevorzugen, die ihre jeweiligen Interessen widerspiegeln – ihre moralischen und religiösen Überzeugungen und ihre soziale Stellung. Manche sind reich, manche arm, einige sind mehr, andere weniger mächtig und gut vernetzt. Manche gehören rassischen, ethnischen oder religiösen Minderheiten an, andere nicht. Wir könnten uns vielleicht auf einen Kompromiss einigen. Doch selbst der würde wahrscheinlich die überlegene Verhandlungsmacht einer bestimmten Fraktion widerspiegeln. Es gibt keinen Grund für die Annahme, ein auf diesem Weg entstandener Gesellschaftsvertrag führe zu einer gerechten Ordnung. Führen wir nun ein Gedankenexperiment durch: Unterstellen wir, dass wir bei der Versammlung nicht wissen, wo wir jeweils am Ende in der Gesellschaft stehen werden. Das heißt, wir entscheiden über die Grundsätze unseres Zusammenlebens hinter einem »Schleier des Nichtwissens«, der uns zeitweilig die Erinnerung daran raubt, wer wir eigentlich sind. Wir kennen weder unsere soziale Schicht noch unser Geschlecht, unsere Rasse oder Ethnie, unsere politischen Meinungen oder religiösen Überzeugungen. Ebenso wenig wissen wir von unseren Vorzügen und Problemen – ob wir gesund oder gebrechlich sind, hochgebildet oder Schulabbrecher, in eine unterstützende oder eine zerbrochene Familie hineingeboren. Wüssten wir nichts dergleichen, würden wir letztlich aus einem Urzustand der Gleichheit heraus entscheiden. Da niemand eine überlegene Verhandlungsposition besäße, wären die Grundsätze, auf die wir uns einigten, gerecht.
So stellt sich Rawls den Gesellschaftsvertrag vor: als hypothetische Vereinbarung in einem Urzustand der Gleichheit. Rawls lädt uns zu der Frage ein, welche Grundsätze wir – als vernünftige, eigennützige
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