Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Philosoph und Zeitgenosse Kants, nahm an dieser kompromisslosen Haltung Anstoß. Die Pflicht, nur die Wahrheit zu sagen, so Constant, gelte nur gegenüber jenen, die ein Recht auf Wahrheit hätten, was bei dem Mörder gewiss nicht der Fall sei. Kant erwiderte, es sei falsch, den Mörder zu belügen, und zwar nicht, weil es sein Recht verletze, sondern weil es gegen das Prinzip des Rechts verstoße: »Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen.« 40
Zugegeben, einem Mörder dabei zu helfen, seine schreckliche Tat auszuführen, ist ein ziemlich schwerwiegender »Nachteil«. Aber vergessen wir nicht: Für Kant geht es bei der Moral nicht um die Folgen, sondern ums Prinzip. Die Folgen seiner Handlung – in diesem Fall: die Wahrheit zu sagen – lassen sich nicht steuern, da sie mit Zufälligkeiten verknüpft sind. Vielleicht ist der Freund aus Angst vor dem Mörder ja bereits durch die Hintertür entkommen. Die Wahrheit muss man nicht deshalb sagen, stellt Kant fest, weil der Mörder ein Recht auf sie hätte. Es geht darum, dass eine Lüge – jede Lüge – »die Rechtsquelle unbrauchbar macht (…). Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.« 41
Diese Position erscheint merkwürdig und extrem. Mit Sicherheit sind wir moralisch nicht verpflichtet, einem SS-Mann zu erzählen, dass Anne Frank und ihre Familie sich im Dachboden versteckt halten. Es sieht beinahe so aus, als würde Kant, indem er darauf besteht, dem Mörder an der Tür die Wahrheit zu sagen, den kategorischen Imperativ entweder falsch anwenden oder dessen Verrücktheit beweisen.
Aber auch wenn einem Kants Behauptung unplausibel erscheint, möchte ich eine Art von Verteidigung vorlegen. Meine Rechtfertigung weicht zwar von der Kants ab, ist aber nichtsdestoweniger im Geiste seiner Philosophie formuliert und wirft, wie ich hoffe, ein wenig Licht darauf.
Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in der Zwangslage mit einer Freundin, die sich im Schrank versteckt, und dem Mörder vor der Tür. Natürlich wollen Sie dem Mörder nicht helfen, seinen bösen Plan in die Tat umzusetzen – so viel steht fest. Sie möchten also nichts sagen, was den Mörder zu Ihrer Freundin führt. Die Frage lautet: Was sagen Sie ihm? Sie haben zwei Möglichkeiten. Sie könnten einfach lügen: »Nein, sie ist nicht da.« Oder Sie könnten eine wahre, aber irreführende Aussage machen: »Vor einer Stunde habe ich sie unten auf der Straße gesehen, beim Lebensmittelladen.«
Aus Kants Sicht ist die zweite Strategie moralisch zulässig, die erste dagegen nicht. Man könnte das als kleinliche Krittelei betrachten, denn worin besteht, moralisch gesehen, schon der Unterschied zwischen einer technisch wahren, aber irreführenden Antwort und einer klaren Lüge? In beiden Fällen hoffe ich, den Mörder in die Irre zu führen und ihn glauben zu machen, dass meine Freundin sich nicht im Haus versteckt hält.
Kant glaubt, bei dieser Unterscheidung gehe es um sehr viel. Sehen wir uns beispielsweise die »frommen Lügen« an, die kleinen Unwahrheiten, die wir manchmal aus Höflichkeit äußern. Nehmen wir an, ein Freund überreicht Ihnen ein Geschenk. Sie öffnen die Schachtel und finden darin eine lächerliche Krawatte, die Sie niemals tragen würden. Wie reagieren Sie? Sie könnten sagen: »Die ist aber schön!« Das wäre eine fromme Lüge. Oder Sie könnten sagen: »Das war doch nicht nötig!« Oder: »Eine solche Krawatte habe ich noch nie gesehen. Ich danke dir.« Wie die fromme Lüge dürften diese Aussagen meinem Freund den falschen Eindruck vermitteln, dass ich die Krawatte mag. Sie wären aber immerhin wahr.
Kant würde die fromme Lüge missbilligen, weil sie aus Angst vor den unerwünschten Folgen eine Ausnahme vom moralischen Gesetz zulässt. Die Gefühle eines anderen zu schonen ist ein lobenswertes Ziel, doch es muss in seiner Sicht auf eine Weise verfolgt werden, die mit dem kategorischen Imperativ in Einklang steht. Und dieser fordert, dass wir bereit sind, den Grundsatz, nach dem wir handeln, zu verallgemeinern. Wenn wir Ausnahmen zulassen, wann immer wir glauben, unsere Ziele seien dafür hinreichend überzeugend, dann löst sich der kategorische Charakter des moralischen Gesetzes in Luft auf. Die wahre, aber irreführende
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