Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Aussage dagegen gefährdet den kategorischen Imperativ nicht in der gleichen Weise. Tatsächlich griff Kant diese Unterscheidung einst auf, als er selbst mit einem Dilemma konfrontiert war.
Hätte Kant Bill Clinton verteidigt?
Einige Jahre vor seinem Meinungsaustausch mit Constant befand Kant sich selbst in Schwierigkeiten mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. Der Monarch und seine Zensoren hielten Kants Schriften über die Religion für despektierlich gegenüber dem Christentum. Sie verlangten vom ihm die Zusicherung, sich jeder weiteren Äußerung zu diesem Thema zu enthalten. Kant antwortete mit einer sorgfältig formulierten Erklärung: »Als Ew. Königl. Maj. getreuester Unterthan [erkläre ich] feierlichst (…), dass ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde.« 42 Kant gab seine Erklärung in dem Bewusstsein ab, dass der König wahrscheinlich nicht mehr allzu lange leben würde. Als Friedrich Wilhelm einige Jahre darauf starb, sah Kant sich von seinem Versprechen entbunden, da es ihn ja nur als »getreuesten Untertan seiner Majestät« verpflichtete. Kant erläuterte später: »Auch diesen Ausdruck wählte ich vorsichtig, damit ich nicht der Freiheit (…) auf immer, sondern nur so lange Se. Maj. am Leben wäre, entsagte.« 43 Mit dieser schlauen Ausflucht gelang es Kant, diesem Ausbund preußischer Rechtschaffenheit, die Zensoren in die Irre zu führen, ohne sie zu belügen.
Haarspalterei? Mag sein. Dennoch scheint in der Unterscheidung zwischen einer glatten Lüge und einem kunstvollen Winkelzug etwas auf dem Spiel zu stehen, was moralisch bedeutsam ist. Nehmen wir den ehemaligen US -Präsidenten Bill Clinton. Keine öffentliche Person der USA in der jüngeren Vergangenheit gestaltete ihre Dementis sorgfältiger. Als man ihn während seines ersten Wahlkampfs um das Amt des Präsidenten fragte, ob er je Drogen genommen habe, erwiderte Clinton, er habe nie gegen die Antidrogengesetze seines Landes oder Bundesstaats verstoßen. Später räumte er ein, als Student in Oxford (England) Marihuana ausprobiert zu haben.
Sein bemerkenswertestes Dementi dieser Art war die Reaktion auf Berichte, er habe im Weißen Haus Sex mit Monica Lewinsky, einer 22-jährigen Praktikantin, gehabt: »Aber ich möchte dem amerikanischen Volk eines sagen. Ich möchte, dass Sie mir zuhören. (…) Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Ms. Lewinsky.«
Später kam heraus, dass der Präsident sehr wohl sexuelle Kontakte mit Monica Lewinsky gehabt hatte, und der Skandal führte zu einem Amtsenthebungsverfahren. Während der Anhörungen debattierte der republikanische Kongressabgeordnete Bob Inglis mit Clintons Anwalt Gregory Craig darüber, ob der Präsident gelogen hatte, als er »sexuelle Beziehungen« abstritt:
Inglis: Nun, Mr. Craig, hat er das amerikanische Volk belogen, als er sagte: »Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau?« Hat er gelogen?
Craig: Er hat sicher in die Irre geführt und getäuscht …
Inglis: Einen Moment bitte. Hat er gelogen?
Craig: Dem amerikanischen Volk gegenüber … er hat es in die Irre geführt und in diesem Augenblick nicht die Wahrheit gesagt.
Inglis: Okay, Sie verlassen sich nicht darauf … und der Präsident hat persönlich betont … dass keine rechtlichen Manöver oder Formalien zur Verdunkelung der moralischen Wahrheit zulässig sein sollten. Hat er das amerikanische Volk belogen, als er sagte: »Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau«?
Craig: Er glaubt nicht, dass er gelogen hat, und wegen der Art und Weise … lassen Sie mich das erklären, Herr Abgeordneter.
Inglis: Er glaubt nicht, dass er gelogen hat?
Craig: Nein, er glaubt nicht, dass er gelogen hat, weil seine Vorstellung, was Sex ist, der Wörterbuchdefinition entspricht. Vielleicht sind Sie anderer Meinung, aber so wie er das sieht, war seine Definition nicht …
Inglis: Okay, dieses Argument verstehe ich.
Craig: Okay.
Inglis: Wirklich erstaunlich, dass Sie jetzt vor uns sitzen und alle seine … seine Entschuldigungen zurücknehmen.
Craig: Nein.
Inglis: Sie nehmen sie alle zurück, oder?
Craig: Nein, natürlich nicht.
Inglis: Weil Sie jetzt wieder auf Ihre Argumentation zurückkommen … es gibt viele Argumente, die Sie hier vorbringen können. Eines davon lautet, er hatte mit ihr keinen Sex. Es war Oralsex, kein richtiger Sex. Ist es
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