Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
ist.
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Wem steht was zu?
ARISTOTELES
Callie Smartt war eine beliebte Cheerleaderin an der Andrews Highschool in West Texas. Sie litt an Zerebraler Kinderlähmung und war auf den Rollstuhl angewiesen, aber das konnte die Begeisterung nicht dämpfen, die sie bei den Spielen der Schulmannschaft durch ihre lebhafte Präsenz an der Außenlinie unter Football-Spielern und Fans auslöste. Am Ende der Saison jedoch wurde Callie aus dem Kader geworfen. 1
Auf Drängen einiger anderer Cheerleaderinnen und deren Eltern wurde Callie von Vertretern der Schule mitgeteilt, wenn sie im nächsten Jahr wieder zum Kader gehören wolle, müsse sie wie alle anderen an einem straffen Gymnastikprogramm teilnehmen, das Spagat und andere Formen des Bodenturnens einschließe. Der Vater der Teamkapitänin setzte sich an die Spitze der Opposition gegen Callies erneute Aufnahme in das Team. Er behauptete, sich um ihre Sicherheit Sorgen zu machen. Callies Mutter hatte dagegen den Verdacht, die Gegner seien wegen des Beifalls, den Callie bekam, von Missgunst motiviert.
Callies Geschichte wirft zwei Fragen auf. Eine betrifft die Fairness. Durfte Callie zur Gymnastik verpflichtet werden, um sich als Cheerleaderin zu qualifizieren, oder war diese Forderung angesichts ihrer Behinderung unfair? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, fußt auf dem Prinzip der Nichtdiskriminierung: Vorausgesetzt, Callie kann in der Rolle als Cheerleaderin eine gute Leistung erbringen, dann sollte sie nicht allein deswegen ausgeschlossen werden, weil sie ohne eigenes Verschulden physisch nicht in der Lage ist, Gymnastikübungen auszuführen.
Doch das Prinzip der Nichtdiskriminierung ist keine große Hilfe, weil es die im Zentrum der Kontroverse stehende Frage nicht beantworten kann: Was heißt es, in der Rolle einer Cheerleaderin eine gute Leistung zu zeigen? Callies Gegner behaupten, eine gute Cheerleaderin müsse Bodenturnen und Spagat beherrschen. Denn mit diesen Kunststücken bringen Cheerleaderinnen die Menge traditionell in Stimmung. Callies Unterstützer würden sagen, damit würde der Zweck des Cheerleadings mit einem seiner Mittel verwechselt. Beim Cheerleading komme es vor allem darauf an, das Gemeinschaftsgefühl der Schüler zu wecken und die Fans anzufeuern. Wenn Callie im Rollstuhl die Seitenlinie hinauf- und hinunterpresche und dabei ihre Pompons schüttle und ihr Lächeln aufblitzen lasse, tue sie genau das, was man von Cheerleaderinnen erwarte: die Menge anfeuern. Wenn wir also entscheiden wollen, welche Qualifikationen nötig sind, müssen wir bestimmen, was der Kern des Cheerleadings ist und was nur schmückendes Beiwerk.
Die zweite Frage, die sich aus Callies Story ergibt, bezieht sich auf Ressentiments. Welche Art von Ärger könnte den Vater der Teamkapitänin antreiben? Warum stört er sich daran, dass Callie Mitglied des Kaders ist? Die Befürchtung, Callies Aufnahme könne seine Tochter ihren Platz kosten, kann es nicht sein, denn sie gehört bereits zum Team. Auch nicht der schlichte Neid, den er vielleicht einem Mädchen gegenüber empfinden könnte, das seine Tochter bei den Gymnastikübungen aussticht – denn das kann Callie selbstverständlich nicht.
Mein Verdacht ist, dass seine Missgunst vielleicht aus dem Gefühl entspringt, Callie werde eine Ehre zuteil, die ihr nicht zukomme, weil damit der Stolz, den er für das Können seiner Tochter als Cheerleaderin empfindet, in gewisser Weise ins Lächerliche gezogen wird. Wenn tolles Cheerleading auch vom Rollstuhl aus möglich ist, dann wird die besondere Auszeichnung, die jemandem für seine glänzenden Leistungen im Bodenturnen (und den Spagat) zuteilwird, geschmälert.
Falls Callie Cheerleaderin sein sollte, weil sie trotz ihrer Behinderung Tugenden zeigt, die der Rolle angemessen sind, stellt ihr Anspruch eine gewisse Gefahr für die Ehre dar, die den anderen Cheerleaderinnen zuteilwird. Die von ihnen gezeigten gymnastischen Fertigkeiten scheinen für Exzellenz beim Cheerleading nicht länger entscheidend zu sein, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten, eine Menge anzufeuern. Auch wenn der Vater der Cheerleader-Anführerin alles andere als großmütig war, hatte er doch korrekt erfasst, was auf dem Spiel stand. Eine gesellschaftliche Praxis, die in ihrem Zweck und den damit verbundenen Ehren einst als feststehend angesehen worden war, wurde nun dank Callie neu definiert. Sie hatte vorgeführt, dass es mehr als nur eine Möglichkeit gibt, Cheerleaderin zu sein.
Man
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