Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
gemäß Rawls’ Argument steht eine Wohnung oder ein Studienplatz niemandem aufgrund der eigenen, unabhängig bestimmten Verdienste oder Tugenden zu. Was einen Anspruch begründet, kann erst festgelegt werden, wenn die Wohnungsbehörde oder die Hochschulleitung ihre Zielsetzung definiert hat.
Gerechtigkeit und Verdienst
Verteilungsgerechtigkeit frei von allen Vorstellungen eigener Verdienste zu denken ist moralisch attraktiv, aber auch beunruhigend. Attraktiv ist es, weil es die selbstgefällige, in meritokratischen Gesellschaften verbreitete Annahme untergräbt, Erfolg sei die Krönung der Tugend und die Reichen seien reich, weil ihnen mehr zustehe als den Armen. Rawls erinnert uns daran, dass niemand seine natürlichen Fähigkeiten verdient hat oder einen Anspruch auf einen besseren Startplatz in der Gesellschaft besitzt. Ebenso wenig verdanken wir es eigenem Zutun, dass wir in einer Gesellschaft leben, die zufällig unsere speziellen Stärken schätzt. Dieser Umstand ist ein Gradmesser für unser Glück, nicht für unsere Tugend.
Was an der Trennung von Gerechtigkeit und Verdienst beunruhigend ist, ist nicht so leicht in Worte zu fassen. Die Überzeugung, der wirtschaftliche Erfolg sei eine Belohnung für diejenigen, die sie verdienen, sitzt sehr tief – in den USA vielleicht tiefer als in anderen Gesellschaften. Politiker verkünden ständig, wer »hart arbeitet und sich an die Regeln hält«, verdiene es, voranzukommen, und ermutigen Menschen, die den amerikanischen Traum verwirklichen, ihren Erfolg als Spiegel ihrer Tugend zu sehen. Diese Überzeugung ist im besten Fall ein zwiespältiger Segen. Ihr Fortbestehen stellt ein Hindernis für gesellschaftliche Solidarität dar; je mehr wir unseren Erfolg als Folge eigenen Handelns ansehen, desto weniger fühlen wir uns verantwortlich für jene, die zurückfallen.
Möglicherweise ist diese hartnäckige Überzeugung – dass Erfolg als Belohnung für unsere Tugenden zu betrachten sei – einfach nur ein Fehler, ein Mythos, von dem wir uns lösen sollten. Rawls’ Ausführungen über die moralische Willkür des Glücks scheinen dies nahezulegen. Dennoch ist es vielleicht politisch wie philosophisch unmöglich, die Diskussion über Gerechtigkeit so entschieden von der Frage nach den Verdiensten abzulösen, wie Rawls und Dworkin es vorschlagen. Ich möchte darlegen, warum.
Erstens ist Gerechtigkeit oft mit der Frage der Ehre verbunden. Debatten über Verteilungsgerechtigkeit drehen sich nicht allein darum, wer was bekommt, sondern auch darum, welche Eigenschaften ausgezeichnet und belohnt werden sollten.
Zweitens ist die Vorstellung, Vorzüge kämen allein dadurch zustande, dass soziale Institutionen eine bestimmte Zielsetzung definieren, nicht ganz unproblematisch: Die Ziele der sozialen Institutionen und Praktiken, um die es in der Regel geht – Schulen, Universitäten, Stellenbesetzungen, öffentliche Ämter –, können nicht nach Gutdünken definiert werden. Schließlich stehen sie zumindest teilweise für die speziellen Werte, die sie weitergeben. Zwar kann man darüber diskutieren, worin die Zielsetzung einer juristischen Hochschule oder einer Armee oder eines Orchesters bestehen sollte, aber das heißt keineswegs, dass alles erlaubt ist. Bestimmte Institutionen verkörpern bestimmte Werte, und es kann durchaus eine Art von Verfälschung darstellen, diese Werte bei der Rollenzuweisung zu missachten.
Auf welche Weise Gerechtigkeit mit der Frage der Auszeichnung zusammenhängt, können wir mit einem erneuten Blick auf den Fall Hopwood erkennen. Nehmen wir an, Dworkin habe recht mit der Aussage, moralische Verdienste sollten nichts damit zu tun haben, wer zugelassen wird. Hier der Brief mit der Ablehnung, den die Hochschule an Hopwood dann hätte senden sollen: 16
Sehr geehrte Ms. Hopwood,
wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Zulassungsbewerbung abgelehnt wurde. Sie sollten wissen, dass wir Sie mit unserer Entscheidung nicht kränken wollten. Wir schätzen Sie nicht gering. Tatsächlich glauben wir nicht, dass Sie es weniger verdient hätten als diejenigen, die angenommen wurden.
Es ist nicht Ihr Fehler, dass die Gesellschaft zum derzeitigen Zeitpunkt die von Ihnen angebotenen Eigenschaften zufällig nicht benötigt. Jene, die an Ihrer Stelle angenommen wurden, verdienen weder den Studienplatz noch Lob für die Eigenschaften, die zu ihrer Aufnahme führten. Wir setzen sie – und Sie – nur als Mittel für einen weiter gefassten gesellschaftlichen
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