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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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in seiner Flötenkunst über sie, [so müsste man doch] diesem die ausgezeichnetsten Flöten übergeben. 3
    Glänzende Leistungen von solch verschiedener Art miteinander zu vergleichen hat etwas Komisches. Es ist, als würde man folgende Frage stellen: »Bin ich hübscher, als sie gut Lacrosse spielen kann?« Oder: »War Babe Ruth ein größerer Baseball-Spieler als Shakespeare ein Stückeschreiber?« Fragen dieser Art dürften eigentlich nur als Gesellschaftsspiele einen Sinn ergeben. Aristoteles kommt es aber darauf an, dass wir bei der Vergabe von Flöten nicht nach der reichsten oder der schönsten oder gar der absolut besten Person suchen sollten, sondern nach dem besten Flötenspieler Ausschau halten.
    Diese Vorstellung ist uns vollkommen vertraut. Viele Orchester lassen Bewerber hinter einem Schirm vorspielen, damit die Qualität der Musik ohne Voreingenommenheit oder Ablenkung beurteilt werden kann. Aristoteles’ Begründung ist indessen weniger bekannt. Der offensichtlichste Grund, die besten Flöten an die besten Flötenspieler zu vergeben, besteht für uns darin, dass auf diese Weise die beste Musik zustande kommt, was für uns Zuhörer vorteilhaft ist. Anders Aristoteles: Er glaubt, die besten Flöten sollten an die besten Flötenspieler vergeben werden, weil Flöten genau dazu da sind – sie sollen gut gespielt werden. Flöten dienen dem Zweck, exzellente Musik hervorzubringen. Wer diesen Zweck am besten erfüllen kann, der sollte die besten Flöten erhalten.
    Nun ist ebenso wahr, dass die Vergabe der besten Instrumente an die besten Musiker den willkommenen Nebeneffekt hat, auch die beste Musik hervorzubringen, was alle erfreuen wird – und dadurch entsteht das größte Glück der größten Zahl. Wichtig ist aber zu erkennen, dass Aristoteles’ Begründung über diese utilitaristische Einschätzung hinausgeht.
    Die Art, in der Aristoteles vom Zweck eines Gutes auf seine angemessene Zuteilung kommt, ist ein Beispiel für teleologisches Denken (»teleologisch« leitet sich von dem bereits erwähnten griechischen Wort »telos« ab, das »Zweck« oder »Ziel« bedeutet). Wenn wir die gerechte Verteilung eines Gutes bestimmen wollen, müssen wir laut Aristoteles nach dem Telos, dem Zweck des zu vergebenden Gutes fragen.

Teleologisches Denken:
Tennisplätze und Pu der Bär
    Teleologisches Denken mag einem als merkwürdige Methode zum Nachdenken über Gerechtigkeit vorkommen, ist aber in gewisser Hinsicht nachvollziehbar. Nehmen wir an, wir müssen entscheiden, wie die besten Tennisplätze auf dem Hochschulgelände zu vergeben sind. Wir könnten eine hohe Gebühr festsetzen und so diejenigen vorziehen, die am meisten dafür bezahlen können. Oder wir geben den großen Tieren der Uni den Vorzug, etwa dem Hochschulpräsidenten oder den Nobelpreisträgern unter den Wissenschaftlern. Aber nehmen wir an, zwei renommierte Wissenschaftler würden eher lustlos Tennis spielen und den Ball kaum übers Netz bekommen – und dann käme die Tennisauswahl der Schule vorbei und beanspruchte den Platz. Wären wir nicht geneigt, die Wissenschaftler auf einen schlechteren Platz zu verweisen, damit die Auswahlspieler den besten nutzen können? Und würden wir es nicht damit begründen, dass der beste Tennisspieler den besten Platz am besten nutzen kann, während er an mittelmäßige Spieler verschwendet wäre?
    Oder nehmen wir an, eine Stradivari sei zu verkaufen. Ein reicher Sammler überbietet Itzhak Perlman und will das Instrument in seinem Wohnzimmer ausstellen. Würden wir das nicht als eine Art Verlust betrachten, vielleicht sogar als Ungerechtigkeit? Nicht, weil wir meinen, die Auktion sei an sich unfair, sondern weil das Ergebnis nicht passt? Hinter dieser Reaktion liegt vielleicht der (teleologische) Gedanke, eine Stradivari sei dafür gedacht, gespielt und nicht ausgestellt zu werden.
    In der Antike spielte das teleologische Denken eine größere Rolle als heute. Platon und Aristoteles glaubten, Feuer steige auf, weil es dem Himmel als seiner natürlichen Heimat entgegenstrebe, und Steine würden fallen, weil sie bestrebt seien, der Erde näher zu sein, wo sie ja hingehörten. Sie glaubten, die Natur unterliege einer bedeutsamen Ordnung. Die Natur und unseren Platz in ihr zu verstehen lief darauf hinaus, ihren Zweck und ihre Bedeutung zu begreifen.
    Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft sah man die Natur nicht länger als bedeutsame Ordnung an. Vielmehr verstand man sie als mechanistisch und von den

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