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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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beachte die Verbindung zwischen der ersten, die Fairness betreffenden Frage und der zweiten, die sich auf Ehre und Missgunst bezieht. Wollen wir bestimmen, welches Vorgehen bei der Vergabe von Positionen fair ist, müssen wir Natur und Zweck dieser Institution bestimmen. Ansonsten können wir nicht angeben, welche Eigenschaften dafür entscheidend sind. Doch die Bestimmung des Wesens von Cheerleading kann kontrovers verlaufen, weil sie uns in Debatten darüber verwickelt, welche Eigenschaften eine Auszeichnung verdienen. Der Zweck des Cheerleadings hängt zum Teil davon ab, welche Tugenden unserer Ansicht nach Anerkennung und Belohnung verdienen.
    Wie diese Episode zeigt, haben soziale Praktiken wie Cheerleading nicht nur einen instrumentellen Zweck (das Team anzufeuern), sondern es geht auch darum, ein bestimmtes beispielhaftes Verhalten zu ehren und bestimmte herausragende Fähigkeiten und Tugenden zu würdigen. Wenn die Highschool ihre Cheerleaderinnen wählt, fördert sie nicht nur den Gemeinschaftsgeist unter den Schülern, sondern preist auch Eigenschaften, von denen sie hofft, dass die Studenten sie bewundern und nachahmen werden. Das erklärt, warum der Streit so intensiv geführt wurde. Außerdem erklärt es, was ansonsten rätselhaft gewesen wäre: wie diejenigen, die dem Kader schon angehörten (und ihre Eltern), den Eindruck haben konnten, dass in der Debatte über Callies Eignung für sie persönlich etwas auf dem Spiel stand. Diese Eltern wollten, dass das Cheerleading die traditionellen Tugenden der Cheerleaderinnen, über die ihre Töchter verfügten, in Ehren hielt.

Gerechtigkeit, Telos und Ehre
    So gesehen ist die Meinungsverschiedenheit über Cheerleaderinnen in West-Texas ein kurzer Einführungskurs in die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles. Im Zentrum seiner politischen Philosophie stehen zwei Ideen, die beide in der Auseinandersetzung über Callie eine Rolle spielen:
     
Gerechtigkeit ist teleologisch. Zur Definition von Rechten ist es erforderlich, das Telos (Zweck, Ziel oder wesentliche Natur) der in Frage stehenden gesellschaftlichen Praxis zu bestimmen.
Gerechtigkeit hat mit Ehre zu tun. Über das Telos einer solchen Praxis nachzudenken – oder darüber zu streiten – heißt zumindest teilweise, darüber nachzudenken oder zu streiten, welche Tugenden diese Praxis auszeichnen und belohnen sollte.
    Der Schlüssel zum Verständnis von Aristoteles’ Ethik und Politik liegt darin, dass man die normative Kraft dieser beiden Erwägungen und die zwischen ihnen bestehende Beziehung erkennt.
    Moderne Theorien der Gerechtigkeit bemühen sich, Fragen der Fairness und der Rechte von solchen Debatten zu trennen, in denen es um Ehre, Tugend und moralische Verdienste geht. Sie suchen Prinzipien der Gerechtigkeit, die in Hinblick auf die Ziele neutral sind und die Menschen in die Lage versetzen, ihre Ziele selbst zu wählen und zu verfolgen. Aristoteles (384–322 v. Chr.) hingegen glaubt nicht, dass Gerechtigkeit auf diese Weise neutral sein könne. Er ist überzeugt, dass Debatten über Gerechtigkeit unausweichlich Debatten über Ehre, Tugend und die Natur des guten Lebens seien.
    Wenn wir erkennen, warum Aristoteles glaubt, dass Gerechtigkeit und das gute Leben verknüpft sein müssen, sehen wir auch besser, was auf dem Spiel steht, wenn man versucht, diese beiden Aspekte zu trennen.
    Für Aristoteles heißt Gerechtigkeit, den Menschen zu geben, was sie verdienen – also jeder Person das zu geben, was ihr zukommt. Doch was kommt einem Menschen zu? Was sind seine Vorzüge oder Verdienste? Das Recht schließt zwei Faktoren ein: »Es hat eine sachliche und persönliche Seite.« Und allgemein sagen wir, »dass es für Gleiche ein Gleiches geben müsse«. 2 Hieraus ergibt sich eine schwierige Frage: »Gleich« in welcher Hinsicht? Das hängt davon ab, was wir verteilen – und von den für diese Dinge relevanten Tugenden.
    Nehmen wir an, wir verteilen Flöten. Wer sollte die besten erhalten? Aristoteles’ Antwort: die besten Flötenspieler.
    Das Recht unterscheidet nach den Vorzügen, nach der relevanten Leistung. Und im Falle des Flötenspiels besteht der relevante Vorzug darin, dass jemand gut spielen kann. Es wäre ungerecht, auf einer anderen Grundlage zu urteilen, etwa Reichtum, Adel, Schönheit oder einfach einer Verlosung.
Edle Geburt und Schönheit [mögen] ein höheres Gut [sein] als die Flötenkunst, und wenn auch im Verhältnis diese Güter mehr über die Flötenkunst hervorragen als jener

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