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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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Gesetzen der Physik beherrscht. Es galt nun als naiv und anthropozentrisch, Naturerscheinungen in Begriffen von Zwecken, Bedeutungen und Zielen zu erklären.
    Trotz dieser Verschiebung sind wir für die Versuchung, die Welt als geordnet und als zweckdienliches Ganzes zu betrachten, immer noch anfällig. Sie hält sich besonders bei Kindern, denen man erst beibringen muss, die Welt nicht mehr auf diese Weise zu sehen. Mir fiel das auf, als meine Kinder sehr klein waren und ich ihnen aus dem Buch Pu der Bär von A. A. Milne vorlas. Die Geschichte beschwört einen kindlichen Blick auf die Natur herauf; sie ist dort verzaubert und durch Bedeutung und Zweck animiert.
    Am Anfang des Buches spaziert Pu der Bär in den Wald und kommt zu einer großen Eiche. In ihrem Wipfel »tönte ein lautes Summen«.
Winnie-der-Pu setzte sich am Fuß des Baumes hin, stützte seinen Kopf in die Pfoten und begann nachzudenken.
Zuerst sagte er zu sich selbst: »Dieses Geräusch da oben muss etwas bedeuten. Es gibt kein Geräusch, das immerfort summt und summt, wenn es nicht etwas Bestimmtes bedeutet, und der einzige Grund, den ich für ein solches Geräusch kenne, ist der, dass eine Biene da herumfliegt.«
Dann überlegte er wieder eine lange Zeit und stellte schließlich fest: »Und der einzige mir bekannte Zweck, eine Biene zu sein, ist der, Honig zu liefern.«
Zufrieden stand er auf und sagte: »Und der einzige Zweck, Honig zu liefern, ist der, dass er von mir gegessen wird.« Pu der Bär begann also den Baum hinaufzuklettern. 4
    Pus kindliche Überlegung zu den Bienen ist ein gutes Beispiel für teleologisches Denken. Wenn wir erwachsen sind, gelangen wir meist darüber hinaus, die Welt der Natur auf diese Art zu betrachten, und halten sie für bezaubernd und auch für ein wenig wunderlich. Und weil wir das teleologische Denken in der Wissenschaft verworfen haben, sind wir geneigt, es auch in Politik und Moral abzulehnen. Doch es ist gar nicht leicht, beim Nachdenken über soziale Institutionen und politische Verfahrensweisen ohne teleologisches Denken auszukommen. Heute nimmt zwar kein Naturwissenschaftler Aristoteles’ Werke über Biologie oder Physik mehr ernst. Doch seine Schriften zur Moralphilosophie und politischen Philosophie werden von den Studenten in den Fächern Ethik und Politik weiterhin mit Gewinn gelesen.

Was ist das Telos einer Universität?
    Auch die Debatte über positive Diskriminierung lässt sich aristotelisch reformulieren. Wir beginnen damit, einfach nach Verteilungskriterien zu suchen: Wer hat ein Recht, an der Universität angenommen zu werden? Wenn wir uns damit befassen, taucht (zumindest implizit) die Frage auf, was denn der Zweck oder das Telos einer Hochschule sei.
    Wie so oft ist das Telos nicht offensichtlich, sondern umstritten. Manche sagen, Universitäten seien zur Förderung wissenschaftlicher Exzellenz da und akademische Kriterien sollten die Zulassung regeln. Andere meinen, Universitäten seien auch dazu da, bestimmten Werten der Zivilgesellschaft auf die Sprünge zu helfen, weshalb die Kriterien für eine Zulassung beispielsweise auch die Fähigkeit einschließen sollten, in einer ethnisch heterogenen Gesellschaft eine Führungsrolle einzunehmen. Will man die angemessenen Zulassungskriterien bestimmen, scheint es also entscheidend, vorher den Zweck einer Universität zu klären.
    Eng verbunden mit der Debatte über die Zielsetzung einer Universität ist die Frage zur Wertschätzung: Welche Tugenden oder Leistungen sollen von Hochschulen ausgezeichnet und belohnt werden? Wer glaubt, Universitäten seien dazu da, allein wissenschaftliche Exzellenz zu preisen und zu belohnen, dürfte positive Diskriminierung ablehnen. Wer dagegen meint, sie seien auch dazu da, gewisse gesellschaftspolitische Ideale zu fördern, dürfte dieses Verfahren wohl begrüßen.
    Dass Diskussionen über Universitäten – und Cheerleaderinnen oder Flöten – natürlicherweise so verlaufen, bestätigt die Aussage des Aristoteles: Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit und Rechte sind oft Debatten über die Zielsetzung oder das Telos einer sozialen Institution. Sie drehen sich um konkurrierende Vorstellungen der Tugenden, die von diesen Institutionen ausgezeichnet und belohnt werden sollen.
    Was können wir tun, wenn Menschen über das Telos oder die Zielsetzung der fraglichen Aktivität uneins sind? Ist es möglich, über das Telos einer sozialen Einrichtung nachzudenken, oder besteht die Zielsetzung einer Universität

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